Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
ihm unheimlich gut, und er wiederholte es stets von neuem. Auch Adel , das kam ihm jetzt zu Bewußtsein, hatte ihm stets gefallen, es war ein Wort, in das die Sache hineinfloß, oder umgekehrt. De l’Arronge – der Mädchenname von Florence hatte ihn nie an Adel denken lassen, und sie machte sich auch nichts daraus. Lucien von Graffenried: Das war anders, alter Berner Adel, er dachte dabei an edle, makellose Strukturen aus Sandstein, an die Biegung der Gerechtigkeitsgasse und daran, daß es einen von Graffenried gegeben hatte, der in Beirut eine unklare Rolle gespielt hatte.
    Und natürlich Eva von Muralt, die Unglaubliche. Es war nur ein Schülerfest gewesen, in keiner Weise vergleichbar mit Silveiras Fotos, und doch hatte er in den hohen Räumen vor Aufregung geschwitzt. »Unglaublich!« hatte Eva gesagt, als ein Junge sie fragte, ob man einen adligen Titel kaufen könne. »Unglaublich!« hatte sie auch ausgerufen, als Gregorius am Schluß Geschirr spülen wollte.
    Silveiras Plattensammlung machte einen verstaubten Eindruck. Als sei die Periode in seinem Leben, wo Musik eine Rolle gespielt hatte, lange vorbei. Gregorius fand Berlioz, Les Nuits d’Été, La Belle Voyageuse und La Mort d’Ophélie , die Musik, die Prado geliebt hatte, weil sie ihn an Fátima erinnerte. Estefânia war seine Chance, endlich aus dem Gerichtshof hinauszutreten, hinaus auf den freien, heißen Platz des Lebens .
    Maria João. Er mußte endlich Maria João finden. Wenn jemand wußte, was damals auf der Flucht geschah und warum Prado nach der Rückkehr krank wurde, dann war sie es.
    Er verbrachte eine unruhige Nacht, in der er auf jedes ungewohnte Geräusch horchte. Die verstreuten Traumbilder glichen sich: Es wimmelte von adligen Frauen, von Limousinen und Chauffeuren. Und sie jagten Estefânia. Sie jagten sie, ohne daß er auch nur ein einziges Bild davon sah. Er wachte mit rasendem Herzen auf, hatte gegen Schwindel zu kämpfen und setzte sich um fünf mit dem anderen Brief, den ihm Adriana gebracht hatte, an den Küchentisch.
     
    Mein geschätzter, mein lieber Sohn,
    ich habe über die Jahre so viele Briefe an Dich angefangen und weggeworfen, daß ich nicht weiß, der wievielte dieser ist. Warum ist es so schwer?
    Kannst Du Dir vorstellen, wie es ist, einen Sohn zu haben, der mit so viel Wachheit und so vielen Begabungen gesegnet ist? Einen wortgewaltigen Sohn, der dem Vater das Gefühl gibt, daß ihm nur die Stummheit bleibt, um nicht wie ein Stümper zu klingen? Als Student des Rechts genoß ich den Ruf, mit Worten gut umgehen zu können. Und in die Familie Reis, die Familie Deiner Mutter, wurde ich als redegewandter Anwalt eingeführt. Meine Reden gegen Sidónio Pais, den galanten Blender in Uniform, und für Teófilo Braga, den Mann mit dem Regenschirm in der Straßenbahn, machten Eindruck. Wie also kam es, daß ich verstummte?
    Du warst vier, als Du mit Deinem ersten Buch zu mir kamst, um mir zwei Sätze vorzulesen: Lissabon ist unsere Hauptstadt. Es ist eine wunderschöne Stadt. Es war Sonntag nachmittag nach einem Regenguß, durch das offene Fenster strömte schwüle, schwere Luft herein, getränkt mit dem Geruch feuchter Blumen. Du hattest geklopft, den Kopf hereingestreckt und gefragt: »Hast du eine Minute?« Wie der erwachsene Sohn eines adligen Hauses, der sich dem Oberhaupt der Familie respektvoll nähert und um eine Audienz bittet. Das altkluge Benehmen hat mir gefallen, doch gleichzeitig bin ich auch erschrocken. Was hatten wir falsch gemacht, daß Du nicht hereingepoltert kamst wie andere Kinder? Deine Mutter hatte mir nichts von dem Buch gesagt, und ich fiel aus allen Wolken, als Du mir die Sätze vorlasest, ohne das geringste Stocken und mit der klaren Stimme eines Rezitators. Und sie war nicht nur klar, die Stimme, sondern auch voller Liebe zu den Wörtern, so daß die beiden einfachen Sätze wie Poesie klangen. (Es ist albern, doch manchmal habe ich gedacht, daß in ihnen Dein Heimweh seinen Ursprung hatte, Dein legendäres Heimweh, in dem Du Dir gefielst, ohne daß es deswegen weniger echt gewesen wäre; zwar warst Du noch nie außerhalb Lissabons gewesen und konntest das Heimweh unmöglich kennen, Du hättest es haben müssen, bevor Du es haben konntest, doch wer weiß, Dir ist alles zuzutrauen, sogar etwas, das man gar nicht denken kann.)
    Eine strahlende Intelligenz erfüllte den Raum, und ich weiß noch, daß ich dachte: Wie wenig die Einfalt der Sätze zu seiner Klugheit paßt! Später, als ich wieder allein

Weitere Kostenlose Bücher