Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
war, wich der Stolz einem anderen Gedanken: Sein Geist wird von nun an sein wie ein greller Scheinwerfer, der gnadenlos all meine Schwächen ausleuchtet. Ich glaube, das war der Anfang meiner Furcht vor Dir. Denn ja, ich habe Dich gefürchtet.
Wie schwer ist es für einen Vater, vor seinen Kindern zu bestehen! Und wie schwer ist der Gedanke zu ertragen, daß man sich mit all seinen Schwächen, seiner Blindheit, seinen Irrtümern und seiner Feigheit, in ihre Seelen einschreibt! Ursprünglich hatte ich diesen Gedanken, wenn ich an die Vererbung des Morbus Bechterev dachte, die euch, Gott sei Dank, verschont hat. Später habe ich mehr an die Seele gedacht, unsere Innenseite, die so empfänglich für Eindrücke ist wie eine Wachstafel und alles mit seismographischer Genauigkeit aufzeichnet. Ich habe vor dem Spiegel gestanden und gedacht: Was wird dieses strenge Gesicht in ihnen anrichten!
Doch was kann einer für sein Gesicht? Nicht nichts, denn ich meine ja nicht die einfache Physiognomie. Doch viel ist es nicht. Wir sind nicht die Bildhauer unserer Gesichtszüge und nicht die Regisseure unseres Ernstes, unseres Lachens und Weinens.
Aus den beiden ersten Sätzen wurden Hunderte, Tausende, Millionen. Manchmal schien es, als gehörten die Bücher zu Dir wie die Hände, die sie hielten. Einmal, als Du draußen auf den Stufen lasest, verirrte sich ein Ball spielender Kinder zu Dir. Deine Hand löste sich vom Buch und warf den Ball zurück. Wie fremd die Bewegung der Hand war!
Ich habe Dich als Lesenden geliebt, ich habe Dich sehr geliebt. Auch wenn Du mir unheimlich wurdest in Deiner verzehrenden Lesewut.
Unheimlicher noch warst Du mir in der Inbrunst, mit der Du die Kerzen zum Altar trugst. Ich habe, anders als Deine Mutter, keinen Augenblick geglaubt, Du könntest Priester werden. Du hast das Gemüt eines Rebellen, und Rebellen werden nicht Priester. Was für ein Ziel also würde die Inbrunst schließlich haben, welchen Gegenstand würde sie sich suchen? Daß sie Sprengkraft besaß, diese Inbrunst, das war mit Händen zu greifen. Ich hatte Angst vor den Explosionen, die sie hervorbringen könnte.
Ich spürte diese Angst, als ich Dich im Gericht sah. Ich mußte die Diebin verurteilen und ins Gefängnis schicken, das Gesetz verlangte es. Warum hast Du mich bei Tisch angesehen wie einen Folterknecht? Dein Blick lähmte mich, ich konnte nicht darüber sprechen. Hast Du etwa eine bessere Idee, was wir mit Dieben machen sollen? Hast Du sie?
Ich sah zu, wie Du groß wurdest, ich bestaunte den Sprühregen Deines Geistes, ich hörte Deine Flüche über Gott. Ich mochte Deinen Freund Jorge nicht, Anarchisten machen mir Angst, aber ich war froh, daß Du einen Freund hattest, ein Junge wie Du, es hätte auch anders kommen können, Deine Mutter träumte Dich bleich und still hinter Anstaltsmauern. Sie war zutiefst erschrocken über den Text Deiner Rede zum Abschluß der Schule. »Ein gotteslästernder Sohn, womit habe ich das verdient!« sagte sie.
Auch ich las den Text. Und war stolz! Und neidisch! Neidisch wegen der Selbständigkeit des Denkens und wegen des aufrechten Gangs, die aus jeder Zeile sprachen. Sie waren wie ein leuchtender Horizont, den ich auch gerne erreicht hätte, den ich aber nie würde erreichen können, dazu war die bleierne Schwerkraft meiner Erziehung zu groß. Wie hätte ich Dir meinen stolzen Neid erklären können? Ohne mich klein zu machen, kleiner noch und gedrückter, als ich ohnehin schon war?
Es war verrückt, dachte Gregorius: Da hatten die beiden Männer, Vater und Sohn, auf den gegenüberliegenden Hügeln der Stadt gewohnt wie Gegenspieler in einem antiken Drama, verbunden in archaischer Furcht voreinander und in einer Zuneigung, für die sie nicht die Worte fanden, und hatten sich Briefe geschrieben, die sie sich nicht abzuschicken trauten. Verschränkt in einer Stummheit, die sie aneinander nicht verstanden, und blind gegenüber der Tatsache, daß die eine Stummheit die andere hervorbrachte.
»Die gnädige Frau hat hier manchmal auch gesessen«, sagte Julieta, als sie am späten Vormittag kam und ihn am Küchentisch fand, »aber sie las keine Bücher, nur Zeitschriften.«
Sie musterte ihn. Ob er nicht gut geschlafen habe? Ob etwas mit dem Bett sei?
Es gehe ihm gut, sagte Gregorius, es sei ihm schon lange nicht mehr so gut gegangen.
Sie sei froh, daß jetzt noch jemand anderes im Hause sei, sagte sie, Senhor da Silveira sei so still und verschlossen geworden. ›Ich hasse Hotels‹,
Weitere Kostenlose Bücher