Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
einem wohlhabenden Viertel. Hier lebe ich jetzt. Im Salon setzte er sich in einen Sessel. Was konnte das heißen? Den Bubenbergplatz hatte er nicht mehr berühren können. Würde er auf die Dauer den Boden Lissabons berühren können? Was für eine Berührung würde es sein? Und wie würden seine Schritte auf diesem Boden aussehen?
Dem Augenblick leben: Es klingt so richtig und auch so schön , hatte Prado in einer seiner kurzen Aufzeichnungen notiert, aber je mehr ich es mir wünsche, desto weniger verstehe ich, was es heißt.
Gregorius hatte sich in seinem Leben noch nie gelangweilt. Daß einer nicht wußte, was er mit der Zeit seines Lebens anfangen sollte: Es gab weniges, was er so unverständlich fand wie das. Auch jetzt langweilte er sich nicht. Was er in dem stillen, viel zu großen Haus empfand, war etwas anderes: Die Zeit stand still, oder nein, sie stand nicht still, aber sie zog ihn nicht mit sich fort, trug ihn keiner Zukunft entgegen, floß an ihm unbeteiligt und berührungslos vorbei.
Er ging in das Zimmer des Jungen und betrachtete die Titel von Simenons Romanen. L’homme qui regardait passer les trains. Das war der Roman, von dem Filmbilder im Fenster des Kinos Bubenberg gehangen hatten, Schwarzweißbilder mit Jeanne Moreau. Das war gestern vor drei Wochen gewesen, am Montag, als er davongelaufen war. Gedreht haben mußten sie den Film in den sechziger Jahren. Vor vierzig Jahren. Wie lange war das?
Gregorius zögerte, Prados Buch aufzuschlagen. Die Lektüre der Briefe hatte etwas verändert. Der Brief des Vaters noch mehr als der des Sohns. Schließlich begann er doch zu blättern. Allzu viele Seiten, die er noch nicht kannte, waren nicht mehr übrig. Wie würde es nach dem letzten Satz sein? Den letzten Satz hatte er stets gefürchtet, und von der Mitte eines Buches weg quälte ihn regelmäßig der Gedanke, daß es unweigerlich einen letzten Satz geben würde. Doch dieses Mal würde es mit dem letzten Satz noch viel schwieriger sein als sonst. Es würde sein, als risse der unsichtbare Faden, der ihn bis dahin mit der spanischen Buchhandlung am Hirschengraben verbunden hatte. Er würde das Wenden der letzten Seite verzögern und den Blick verlangsamen, so gut es ging, denn ganz hatte man es ja nicht in der Hand. Der letzte Blick ins Wörterbuch, ausführlicher als nötig. Das letzte Wort. Der letzte Punkt. Dann würde er in Lissabon ankommen. In Lissabon, Portugal.
TEMPO ENIGM Á TICO. RÄTSELHAFTE ZEIT . Ich habe ein Jahr gebraucht, um herauszufinden, wie lang ein Monat ist. Es war im Oktober des vergangenen Jahres, am letzten Tag des Monats. Es geschah, was jedes Jahr geschieht und was mich trotzdem jedes Jahr aus der Fassung bringt, als hätte ich es noch nie zuvor erlebt: Das neue, ausgeblichene Morgenlicht kündigte den Winter an. Kein brennendes Leuchten mehr, kein schmerzhaftes Blenden, kein Gluthauch, vor dem man sich in den Schatten flüchten möchte. Ein mildes, versöhnliches Licht, das die kommende Kürze der Tage sichtbar in sich trug. Nicht, daß ich dem neuen Licht als Feind begegnet wäre, als einer, der es in hilfloser Komik ablehnt und bekämpft. Es schont die Kräfte, wenn die Welt die scharfen Kanten des Sommers verliert und uns verwischtere Umrisse zeigt, die zu weniger Entschiedenheit zwingen.
Nein, es war nicht der blasse, milchige Schleier des neuen Lichts, der mich zusammenfahren ließ. Es war die Tatsache, daß das gebrochene, entkräftete Licht wieder einmal das unwiderrufliche Ende einer Periode in der Natur und eines zeitlichen Abschnitts in meinem Leben anzeigte. Was hatte ich seit Ende März gemacht, seit dem Tag, als die Tasse auf dem Tisch des Cafés in der Sonne wieder heiß geworden war, so daß ich beim Griff danach zurückzuckte? War es viel Zeit gewesen, die seither verflossen war, oder wenig? Sieben Monate – wie lang war das?
Gewöhnlich meide ich die Küche, sie ist Anas Reich, und es gibt etwas an ihrem energischen Jonglieren mit den Pfannen, das ich nicht mag. Doch an jenem Tag brauchte ich jemanden, dem gegenüber ich mein lautloses Erschrecken zum Ausdruck bringen konnte, auch wenn es geschehen mußte, ohne es zu nennen.
»Wie lang ist ein Monat?« fragte ich ohne jede Einleitung.
Ana, die gerade das Gas entzünden wollte, blies das Streichholz wieder aus.
»Sie meinen?«
Ihre Stirn lag in Falten wie bei jemandem, der sich einem unlösbaren Rätsel gegenübersieht.
»Was ich sage: Wie lang ist ein Monat?«
Den Blick zu Boden gesenkt, rieb
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