Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
sie sich verlegen die Hände.
»Nun, machmal sind es dreißig Tage, manchmal…«
»Das weiß ich doch«, sagte ich unwirsch, »die Frage aber ist: Wie lange ist das? «
Ana griff nach dem Kochlöffel, damit die Hände etwas zu tun hatten.
»Einmal, da habe ich meine Tochter fast einen Monat lang gepflegt«, sagte sie zögernd und mit der Behutsamkeit eines Seelenarztes, der fürchtet, seine Worte könnten im Patienten etwas zum Einsturz bringen, das sich danach nie wieder würde aufbauen lassen. »Viele Male am Tag die Treppe rauf und runter mit der Suppe, die nicht verschüttet werden durfte – das war lang.«
»Und wie war es danach, im Rückblick?«
Jetzt riskierte Ana ein Lächeln, in dem die Erleichterung zum Ausdruck kam, daß sie sich in der Antwort offenbar nicht völlig vergriffen hatte. »Immer noch lang. Aber irgendwie wurde es dann immer kürzer, ich weiß auch nicht.«
»Die Zeit mit all der Suppe – fehlt sie dir jetzt?«
Ana drehte den Kochlöffel hin und her, dann holte sie ein Taschentuch aus der Schürze und schneuzte sich. »Ich habe das Kind natürlich gerne gepflegt, es war in jener Zeit so überhaupt nicht trotzig. Trotzdem möchte ich’s nicht noch einmal erleben müssen, ich hatte ständig Angst, weil wir nicht wußten, was es war und ob es gefährlich war.«
»Ich meine etwas anderes: ob du es bedauerst, daß jener Monat verflossen ist; daß die Zeit abgelaufen ist; daß du nichts mehr aus ihr machen kannst.«
»Nun ja, sie ist vorbei«, sagte Ana, und nun sah sie nicht mehr wie ein nachdenklicher Arzt aus, sondern wie ein eingeschüchterter Prüfling.
»Ist ja gut«, sagte ich und wandte mich zur Tür. Im Hinausgehen hörte ich, wie sie ein neues Streichholz anriß. Warum war ich immer so knapp, so schroff, so undankbar für die Worte der anderen, wenn es um etwas ging, das mir wirklich wichtig war? Woher das Bedürfnis, das Wichtige rabiat gegen die anderen zu verteidigen, wo sie es mir doch gar nicht wegnehmen wollten?
Am nächsten Morgen, dem ersten Novembertag, ging ich in der Dämmerung zum Bogen am Ende der Rua Augusta, der schönsten Straße der Welt. Das Meer war im fahlen Licht der Frühe wie eine glatte Fläche aus mattem Silber. Mit besonderer Wachheit erleben, wie lang ein Monat ist – das war die Idee, die mich aus dem Bett getrieben hatte. Im Café war ich der erste. Als in der Tasse nur noch wenige Schlucke waren, verlangsamte ich den gewohnten Rhythmus des Trinkens. Ich war unsicher, was ich tun sollte, wenn die Tasse leer wäre. Er würde sehr lang sein, dieser erste Tag, wenn ich einfach sitzen bliebe. Und was ich wissen wollte, war nicht: wie lange ein Monat für den vollkommen Untätigen ist. Doch was war es dann, was ich wissen wollte?
Manchmal bin ich so langsam. Erst heute, wo das Licht des frühen Novembers wieder bricht, merke ich, daß die Frage, die ich Ana stellte – nach der Unwiderruflichkeit, der Vergänglichkeit, dem Bedauern, der Trauer – gar nicht die Frage war, die mich beschäftigt hatte. Die Frage, die ich hatte stellen wollen, war eine ganz andere: Wovon hängt es ab, wenn wir einen Monat als eine erfüllte Zeit, unsere Zeit erlebt haben statt einer Zeit, die an uns vorbeigeflossen ist, die wir nur erlitten haben, die uns durch die Finger geronnen ist, so daß sie uns wie eine verlorene, verpaßte Zeit vorkommt, über die wir nicht traurig sind, weil sie vorbei ist, sondern weil wir aus ihr nichts haben machen können? Die Frage war also nicht: Wie lange ist ein Monat?, sondern: Was könnte man für sich aus der Zeit eines Monats machen? Wann ist es so, daß ich den Eindruck habe, daß dieser Monat ganz meiner gewesen ist?
Es ist also falsch, wenn ich sage: Ich habe ein Jahr gebraucht, um herauszufinden, wie lange ein Monat ist. Es ist anders gewesen: Ich habe ein Jahr gebraucht, um herauszufinden, was ich wissen wollte, als ich die irreführende Frage nach der Länge eines Monats stellte.
Am frühen Nachmittag des nächsten Tages, als er von der Sprachschule kam, traf Gregorius Mariana Eça. Als er sie um die Ecke biegen und auf sich zukommen sah, wußte er auf einmal, warum er sich gescheut hatte, sie anzurufen: Er würde ihr von den Schwindelanfällen erzählen, sie würde laut darüber nachdenken, was es sein könnte, und das wollte er nicht hören.
Sie schlug vor, einen Kaffee zu trinken, und erzählte dann von João. »Ich warte den ganzen Sonntag vormittag auf ihn«, habe er über Gregorius gesagt. »Ich weiß nicht,
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