Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
woran es liegt, aber ich kann mir bei ihm die Dinge von der Seele reden. Nicht, daß sie dann weg wären, aber für ein paar Stunden wird es leichter.« Gregorius erzählte von Adriana und der Uhr, von Jorge und dem Schachclub, und von Silveiras Haus. Er war kurz davor, auch die Reise nach Bern zu erwähnen, doch dann spürte er: Das ließ sich nicht erzählen.
Als er fertig war, fragte sie ihn nach der neuen Brille, und dann verengten sich die Augen zu einem prüfenden Blick. »Sie schlafen zu wenig«, sagte sie. Er dachte an den Morgen, als sie ihn untersucht hatte und er aus dem Sessel vor ihrem Schreibtisch nicht mehr hatte aufstehen wollen. An die ausführliche Untersuchung. An die gemeinsame Schiffahrt nach Cacilhas und den rotgoldenen Assam, den er später bei ihr getrunken hatte.
»Es wird mir in letzter Zeit manchmal schwindlig«, sagte er. Und nach einer Pause: »Ich habe Angst«.
Eine Stunde später verließ er ihre Praxis. Sie hatte noch einmal die Sehschärfe überprüft und den Blutdruck gemessen, er hatte Kniebeugen und Gleichgewichtsübungen machen müssen, und sie hatte sich den Schwindel ganz genau beschreiben lassen. Dann hatte sie ihm die Adresse eines Neurologen aufgeschrieben.
»Es kommt mir nicht gefährlich vor«, hatte sie gesagt, »und verwunderlich ist es auch nicht, wenn man bedenkt, wieviel sich in der kurzen Zeit in Ihrem Leben verändert hat. Aber man muß die üblichen Dinge überprüfen.«
Er hatte das leere Viereck an der Wand von Prados Praxis vor sich gesehen, wo die Gehirnkarte gehangen hatte. Sie sah ihm die Panik an.
»Ein Tumor würde ganz andere Ausfälle mit sich bringen«, sagte sie und strich ihm über den Arm.
Zu Mélodies Haus war es nicht weit.
»Ich wußte, daß Sie noch einmal kommen würden«, sagte sie, als sie ihm öffnete. »Nach Ihrem Besuch war mir Amadeu für einige Tage sehr gegenwärtig.«
Gregorius gab ihr die Briefe an Vater und Sohn zu lesen.
»Das ist ungerecht«, sagte sie, als sie die letzten Worte im Brief des Vaters gelesen hatte. »Ungerecht. Unfair. Als habe Amadeu ihn in den Tod getrieben. Sein Arzt war ein hellsichtiger Mann. Er verschrieb ihm die Schlaftabletten nur in kleinen Mengen. Aber Papá konnte warten. Geduld war seine Stärke. Eine Geduld wie aus stummem Stein. Mamã sah es kommen. Sie sah immer alles kommen. Sie hat nichts getan, es zu verhindern. ›Jetzt tut es ihm nicht mehr weh‹, sagte sie, als wir am offenen Sarg standen. Ich habe sie für diese Worte geliebt. ›Und er braucht sich nicht mehr zu quälen‹, sagte ich. ›Ja‹, sagte sie, ›auch das.‹«
Gregorius erzählte von seinen Besuchen bei Adriana. Sie sei nach Amadeus Tod nicht mehr im blauen Haus gewesen, sagte Mélodie, aber es wundere sie nicht, daß Adriana es zu einem Museum und Tempel gemacht habe, in dem die Zeit zum Stillstand gekommen sei.
»Sie bewunderte ihn schon als kleines Mädchen. Er war der große Bruder, der alles konnte. Der wagte, Papá zu widersprechen. Papá! Ein Jahr, nachdem er zum Studium nach Coimbra gegangen war, wechselte sie in die Mädchenschule gegenüber vom Liceu. In die gleiche Schule, die auch Maria João besucht hatte. Dort war Amadeu der Held aus vergangenen Tagen, und sie genoß es, die Schwester des Helden zu sein. Trotzdem: Die Dinge hätten sich anders, normaler entwickelt, wenn es nicht das Drama gegeben hätte, in dem er ihr das Leben rettete.«
Es war geschehen, als Adriana neunzehn war. Amadeu, der kurz vor dem Staatsexamen stand, war zu Hause und saß Tag und Nacht hinter den Büchern. Er kam nur zum Essen herunter. Es war bei einem solchen Essen der Familie, daß Adriana sich verschluckte.
»Wir hatten alle das Essen auf dem Teller und merkten zunächst nichts. Plötzlich kam von Adriana ein sonderbares Geräusch, ein schreckliches Röcheln, sie hielt den Hals mit den Händen umklammert und stampfte mit den Füßen in rasendem Tempo auf den Boden. Amadeu saß neben mir, in Gedanken ganz bei seiner Vorbereitung aufs Examen, wir waren es gewohnt, daß er dasaß wie ein stummes Gespenst und das Essen blind in sich hineinschaufelte. Ich stieß ihn mit dem Ellbogen und zeigte auf Adriana. Verwirrt sah er auf. Adrianas Gesicht war violett angelaufen, sie bekam keine Luft mehr, und ihr hilfloser Blick ging zu Amadeu. Den Ausdruck, der auf seinem Gesicht erschien, kannten wir alle, es war der Ausdruck wütender Konzentration, den er stets hatte, wenn es etwas Schwieriges gab, das er nicht sofort verstand, er war es
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