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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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gewohnt, alles sofort zu verstehen.
    Jetzt sprang er auf, der Stuhl kippte nach hinten, mit wenigen Schritten war er bei Adriana, faßte sie unter den Armen und stellte sie auf, drehte sie, so daß sie mit dem Rücken zu ihm stand, dann umfaßte er ihre Schultern, holte einen Augenblick Luft und riß ihren Oberkörper mit einem gewaltigen Ruck nach hinten. Aus Adrianas Kehle kam ein ersticktes Röcheln. Sonst änderte sich nichts. Amadeu riß noch zweimal auf die gleiche Weise, doch auch jetzt bewegte sich das Stück Fleisch, das ihr in die Luftröhre gerutscht war, nicht.
    Was danach geschah, prägte sich uns allen für immer ein, Sekunde für Sekunde, Bewegung für Bewegung. Amadeu setzte Adriana zurück auf den Stuhl und befahl mich zu sich. Er beugte ihren Kopf nach hinten.
    »Festhalten«, sagte er gepreßt, »ganz fest!«
    Dann nahm er das scharfe Messer fürs Fleisch von seinem Platz und wischte es an der Serviette ab. Uns stockte der Atem.
    »Nein!« rief Mamã. »Nein!«
    Ich glaube, er hörte es gar nicht. Er setzte sich rittlings auf Adrianas Schoß und sah ihr in die Augen.
    »Ich muß das tun«, sagte er, und noch heute staune ich über die Ruhe in seiner Stimme. »Sonst stirbst du. Nimm die Hände weg. Vertrau mir.«
    Adriana nahm die Hände vom Hals. Er tastete mit dem Zeigefinger nach der Lücke zwischen Schildknorpel und Ringknorpel. Dann setzte er die Spitze des Messers mitten auf den Spalt. Ein tiefer Atemzug, ein kurzes Schließen der Augen, dann stieß er zu.
    Ich konzentrierte mich darauf, Adrianas Kopf wie in einem Schraubstock festzuhalten. Ich sah das Blut nicht spritzen, sah es erst nachher auf seinem Hemd. Adrianas Körper bäumte sich auf. Daß Amadeu den Weg zur Luftröhre gefunden hatte, hörte man an dem Pfeifen, mit dem Adriana die Luft durch die neue Öffnung einsog. Ich öffnete die Augen und sah mit Entsetzen, daß Amadeu die Klinge des Messers in der Wunde drehte, es sah wie ein Akt besonderer Brutalität aus, ich habe erst nachher begriffen, daß er den Luftkanal offenhalten mußte. Nun nahm Amadeu aus der Hemdtasche einen Kugelschreiber, steckte ihn zwischen die Zähne, schraubte mit der freien Hand das obere Teil ab, riß die Mine heraus und führte das untere Teil als eine Kanüle in die Wunde. Langsam zog er die Klinge heraus und hielt den Kugelschreiber fest. Adrianas Atem ging ruckartig und pfeifend, aber sie lebte, und die Farbe des Erstickens wich langsam aus ihrem Gesicht.
    »Die Ambulanz!« befahl Amadeu.
    Papá schüttelte seine Erstarrung ab und ging zum Telefon. Wir trugen Adriana, aus deren Hals der Kugelschreiber ragte, aufs Sofa. Amadeu fuhr ihr übers Haar.
    »Es ging nicht anders«, sagte er.
    Der Arzt, der ein paar Minuten später erschien, legte Amadeu die Hand auf die Schulter. ›Das war knapp‹, sagte er. ›Diese Geistesgegenwart. Diese Courage. In Ihrem Alter.‹
    Als der Krankenwagen mit Adriana abgefahren war, setzte sich Amadeu im blutbespritzten Hemd an seinen Platz am Tisch. Niemand sagte ein Wort. Ich glaube, das war das Schlimmste für ihn: daß niemand etwas sagte. Der Arzt hatte mit seinen wenigen Worten festgestellt, daß Amadeu das Richtige getan und Adriana das Leben gerettet hatte. Und trotzdem sagte jetzt niemand ein Wort, und die Stille, die das Eßzimmer füllte, war voll von entsetztem Erstaunen über seine Kaltblütigkeit. ›Die Stille ließ mich aussehen wie einen Schlächter‹, sagte er Jahre später beim einzigen Mal, wo wir darüber sprachen.
    Daß wir ihn in diesem Moment so vollständig allein ließen, hat er nie verwunden, und es hat sein Verhältnis zur Familie für immer verändert. Er kam seltener nach Hause und dann nur noch als höflicher Gast.
    Plötzlich zersprang die Stille, und Amadeu begann zu zittern. Er schlug die Hände vors Gesicht, und noch heute höre ich das trockene Schluchzen, das den Körper erschütterte. Und wieder haben wir ihn allein gelassen. Ich fuhr ihm mit der Hand über den Arm, aber das war viel zu wenig, ich war nur die achtjährige Schwester, er hätte etwas ganz anderes gebraucht.
    Daß es nicht kam, brachte das Faß zum Überlaufen. Mit einemmal sprang er auf, raste nach oben in sein Zimmer, kam mit einem medizinischen Lehrbuch heruntergerannt und knallte das Buch mit aller Kraft auf den Tisch, das Besteck stieß gegen die Teller, die Gläser klirrten. ›Hier‹, schrie er, ›hier steht es drin. Koniotomie heißt der Eingriff. Was glotzt ihr mich so an? Ihr habt dagesessen wie Ölgötzen! Wenn

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