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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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mir ein Lächeln, das aus der weiten Steppe wach gelebten Lebens kam.
    »Warum probieren Sie es nicht mit Wut?«
     
    Gregorius nahm den letzten Bogen zur Hand. Die wenigen Sätze waren mit anderer Tinte geschrieben, und der Richter hatte sie datiert: 8. Juni 1954, ein Tag vor seinem Tod.
    Das Ringen ist zu Ende. Was, mein Sohn, kann ich Dir zum Abschied sagen?
    Du bist meinetwegen Arzt geworden. Was wäre gewesen, hätte es nicht den Schatten meines Leidens gegeben, in dem Du aufgewachsen bist? Ich stehe in Deiner Schuld. Du bist nicht dafür verantwortlich, daß die Schmerzen blieben und meinen Widerstand nun gebrochen haben.
    Ich habe den Schlüssel im Büro zurückgelassen. Sie werden alles auf die Schmerzen schieben. Daß auch ein Versagen töten kann – der Gedanke ist ihnen fremd.
    Wird Dir mein Tod genügen?
    Gregorius fror und drehte die Heizung auf. Um ein Haar hätte Amadeu ihn zu sehen bekommen, doch ich hatte eine Ahnung und versteckte ihn , hörte er Adriana sagen. Die Heizung nützte nichts. Er machte das Fernsehen an und blieb vor einer Seifenoper sitzen, von der er kein Wort verstand, es hätte Chinesisch sein können. Im Bad fand er eine Schlaftablette. Als sie zu wirken begann, wurde es draußen hell.

34
     
    Es gab zwei Maria João Flores, die im Campo de Ourique wohnten. Am nächsten Tag nach der Sprachschule fuhr Gregorius hin. Hinter der ersten Tür, an der er klingelte, wohnte eine jüngere Frau mit zwei Kindern, die an ihrem Rockzipfel hingen. Im anderen Haus bekam er die Auskunft, daß Senhora Flores für zwei Tage verreist sei.
    Er holte im Hotel die persische Grammatik ab und fuhr hinaus ins Liceu. Zugvögel rauschten über das verlassene Gebäude. Er hatte gehofft, der heiße afrikanische Wind käme wieder, doch es blieb bei der milden Märzluft, in der noch ein Hauch winterlicher Schärfe zu spüren war.
    In der Grammatik lag ein Zettel von Natalie Rubin: Ich hab’s bereits bis hierher geschafft! Die Schrift habe es in sich, hatte sie gesagt, als er sie anrief, um zu sagen, das Buch sei angekommen. Sie tue seit Tagen nichts anderes, die Eltern staunten über ihren Fleiß. Für wann er denn seine Reise in den Iran plane? Ob das heutzutage nicht ein bißchen gefährlich sei?
    Im Jahr zuvor hatte Gregorius in der Zeitung eine Glosse über einen Mann gelesen, der mit neunzig angefangen hatte, Chinesisch zu lernen. Der Verfasser hatte sich über den Mann lustig gemacht. Sie haben keine Ahnung – mit diesem Satz hatte Gregorius seinen Entwurf zu einem Leserbrief begonnen. »Warum verderben Sie sich mit so etwas die Tage?« hatte Doxiades gesagt, als er sah, wie ihn der Ärger auffraß. Er hatte den Brief nicht abgeschickt. Doch Doxiades’ hemdsärmlige Art hatte ihn gestört.
    Als er vor ein paar Tagen in Bern ausprobiert hatte, wie weit er sich noch an die persischen Zeichen erinnerte, war es wenig gewesen, was zurückgekommen war. Doch jetzt, mit dem Buch vor Augen, ging es schnell. Ich bin immer noch dort, an jenem entfernten Ort in der Zeit, ich bin dort nie weggegangen, sondern lebe ausgebreitet in die Vergangenheit hinein, oder aus ihr heraus , hatte Prado notiert. Die tausend Veränderungen, welche die Zeit vorangetrieben haben – sie sind, gemessen an dieser zeitlosen Gegenwart des Fühlens, flüchtig und unwirklich wie ein Traum.
    Der Lichtkegel im Büro von Senhor Cortês wanderte. Gregorius dachte an das unwiderruflich stille Gesicht seines toten Vaters. Er wäre mit seiner Angst vor dem persischen Sandsturm damals gern zu ihm gegangen. Doch so ein Vater war er nicht gewesen.
    Den langen Weg nach Belém ging er zu Fuß und richtete es so ein, daß er an dem Haus vorbeikam, wo der Richter mit seiner Stummheit, seinen Schmerzen und seiner Angst vor dem Urteil des Sohns gelebt hatte. Die Zedern ragten in den schwarzen Nachthimmel. Gregorius dachte an die Narbe unter dem Samtband an Adrianas Hals. Hinter den erleuchteten Fenstern ging Mélodie von Raum zu Raum. Sie wußte, ob dieses die roten Zedern waren. Und was sie mit der Tat zu tun hatten, die ein Gericht Amadeu als Körperverletzung hätte vorwerfen können.
    Es war bereits der dritte Abend in Silveiras Haus. Vivo aqui . Gregorius ging durch das Haus, durch den dunklen Garten, auf die Straße. Er machte einen Spaziergang durchs Viertel und sah den Leuten beim Kochen, Essen und Fernsehen zu. Als er wieder am Ausgangspunkt war, betrachtete er die blaßgelbe Fassade und den beleuchteten Säulenvorbau. Ein vornehmes Haus in

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