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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Stichflamme und dem Vulkanausbruch so wenig verwandt, daß die Erfahrung im Augenblick, wo sie gemacht wird, oft gar nicht bemerkt wird. Wenn sie ihre revolutionäre Wirkung entfaltet und dafür sorgt, daß ein Leben in ein ganz neues Licht getaucht wird und eine vollkommen neue Melodie bekommt, so tut sie das lautlos, und in dieser wundervollen Lautlosigkeit liegt ihr besonderer Adel.
     
    Von Zeit zu Zeit blickte Gregorius vom Text auf und sah hinaus nach Westen. In der restlichen Helligkeit des dämmrigen Himmels, so schien ihm, konnte man jetzt schon das Meer ahnen. Er legte das Wörterbuch weg und schloß die Augen.
    Wenn ich nur noch einmal das Meer sehen könnte , hatte seine Mutter ein halbes Jahr vor ihrem Tod gesagt, als sie spürte, daß es zu Ende ging, aber das können wir uns einfach nicht leisten.
    Welche Bank gibt mir denn schon einen Kredit, hörte Gregorius den Vater sagen , und dann für so etwas.
    Gregorius hatte ihm diese kampflose Resignation übelgenommen. Und dann hatte er, damals Schüler im Kirchenfeld, etwas getan, das ihn selbst so sehr überraschte, daß er später das Gefühl nie ganz los wurde, es sei vielleicht gar nicht wirklich geschehen.
    Es war Ende März und der erste Frühlingstag. Die Leute trugen den Mantel über dem Arm, und durch die offenen Fenster der Baracke strömte milde Luft herein. Man hatte die Baracke vor einigen Jahren hingestellt, weil im Hauptgebäude des Gymnasiums Raumnot herrschte, und es war Tradition geworden, dort die Oberprimaner unterzubringen. Der Wechsel in die Baracke erschien dadurch wie der erste Schritt in der Reifeprüfung. Dabei hielten sich Empfindungen der Befreiung und der Angst die Waage. Ein Jahr noch, dann war endlich Schluß mit… Ein Jahr noch, dann mußte man… Diese schwankenden Empfindungen fanden ihren Ausdruck in der Art und Weise, wie die Schüler zur Baracke hinüberschlenderten, nonchalant und schreckhaft zugleich. Noch jetzt, vierzig Jahre später im Zug nach Irún, konnte Gregorius spüren, wie es damals gewesen war, in seinem Körper zu stecken.
    Der Nachmittag begann mit Griechisch. Es war der Rektor, der unterrichtete, der Vorgänger von Kägi. Er hatte die schönste griechische Handschrift, die man sich denken konnte, er malte die Buchstaben förmlich, und besonders die Rundungen – etwa im Omega oder Theta, oder wenn er das Eta nach unten zog – waren die reinste Kalligraphie. Er liebte das Griechische. Aber er liebt es auf die falsche Art , dachte Gregorius hinten im Klassenzimmer. Seine Art, es zu lieben, war eine eitle Art. Es lag nicht daran, daß er die Wörter zelebrierte. Wenn es das gewesen wäre – es hätte Gregorius gefallen. Doch wenn dieser Mann virtuos die entlegensten und schwierigsten Verbformen hinschrieb, so zelebrierte er nicht die Wörter , sondern sich selbst als einen, der sie konnte. Die Wörter wurden dadurch zu Ornamenten an ihm, mit denen er sich schmückte, sie verwandelten sich in etwas, das seiner gepunkteten Fliege verwandt war, die er jahraus, jahrein trug. Sie flossen aus seiner schreibenden Hand mit dem Siegelring, als seien auch sie von der Art der Siegelringe, eitler Schmuck also und ebenso überflüssig. Und damit hörten die griechischen Wörter auf, wirklich griechische Wörter zu sein. Es war, als zersetzte der Goldstaub aus dem Siegelring ihr griechisches Wesen, das sich nur demjenigen erschloß, der sie um ihrer selbst willen liebte. Dichtung war für den Rektor etwas wie ein erlesenes Möbelstück, ein exquisiter Wein oder eine elegante Abendgarderobe. Gregorius hatte das Gefühl, daß er ihm mit dieser Selbstgefälligkeit die Verse von Aischylos und Sophokles stahl. Er schien nichts zu wissen von den griechischen Theatern. Oder nein, er wußte alles über sie, war oft dort, leitete Bildungsreisen, von denen er braungebrannt zurückkam. Aber er verstand nichts davon – auch wenn Gregorius nicht hätte sagen können, was er damit meinte.
    Er hatte zum offenen Fenster der Baracke hinausgeblickt und an den Satz seiner Mutter gedacht, einen Satz, der seine Wut auf die Eitelkeit des Rektors zum Sieden gebracht hatte, obgleich er den Zusammenhang nicht hätte erklären können. Er spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Mit einem Blick zur Tafel vergewisserte er sich, daß der Rektor noch eine Weile brauchen würde, bis der angefangene Satz zu Ende war und er sich vielleicht erläuternd zu den Schülern umdrehte. Geräuschlos schob er den Stuhl zurück, während die anderen mit

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