Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Speisewagen. Der Wagen war leer bis auf den Mann mit dem graumelierten Haar, der mit dem Kellner Schach spielte. Eigentlich sei der Wagen schon geschlossen, bedeutete ihm der Kellner, aber dann holte er Gregorius doch ein Mineralwasser und lud ihn mit einer Geste ein, sich an ihren Tisch zu setzen. Gregorius sah schnell, daß der Mann von vorhin, der eine goldgeränderte Brille aufgesetzt hatte, dabei war, in eine raffinierte Falle des Kellners zu gehen. Die Hand schon bei der Figur, sah der Mann ihn an, bevor er zog. Gregorius schüttelte den Kopf, und der Mann zog die Hand zurück. Der Kellner, ein Mann mit schwieligen Händen und groben Gesichtszügen, hinter denen man kein Schachgehirn vermutete hätte, blickte überrascht auf. Jetzt drehte der Mann mit der goldenen Brille das Brett in die Richtung von Gregorius und forderte ihn mit einer Handbewegung auf weiterzuspielen. Es wurde ein langer, zäher Kampf, und es ging bereits auf zwei Uhr, als der Kellner aufgab.
Als sie nachher vor seiner Abteiltür standen, fragte der Mann Gregorius, woher er komme, und dann sprachen sie französisch. Er fahre alle zwei Wochen in diesem Zug, sagte der Mann, und nur ein einziges Mal habe er gegen diesen Kellner gewinnen können, während er den anderen meistens schlage. Er stellte sich vor: José António da Silveira. Er war, wie er sagte, Geschäftsmann und verkaufte Porzellan nach Biarritz, und da er Angst vor dem Fliegen hatte, fuhr er mit dem Zug.
»Wer kennt schon die wahren Gründe seiner Angst«, sagte er nach einer Pause, und nun erschien wieder die Erschöpfung auf seinem Gesicht, die Gregorius früher schon bemerkt hatte.
Als er dann erzählte, wie er den kleinen Betrieb seines Vaters übernommen und zu einer großen Firma ausgebaut hatte, sprach er über sich selbst wie über einen anderen, der lauter verständliche, aber insgesamt falsche Entscheidungen getroffen hatte. Und so klang es auch, als er von seiner Scheidung sprach und von den beiden Kindern, die er kaum noch zu sehen bekam. Enttäuschung und Trauer lagen in seiner Stimme, und es beeindruckte Gregorius, daß sie frei von Selbstmitleid waren.
»Das Problem ist«, sagte Silveira, als der Zug im Bahnhof von Valladolid stand, »daß wir keinen Überblick über unser Leben haben. Weder nach vorn noch nach hinten. Wenn etwas gutgeht, haben wir einfach Glück gehabt.« Ein unsichtbarer Hammer schlug prüfend auf die Bremsen. »Und wie kommt es, daß Sie in diesem Zug sind?«
Sie saßen auf Silveiras Bett, als Gregorius seine Geschichte erzählte. Die Portugiesin auf der Kirchenfeldbrücke ließ er aus. So etwas konnte er Doxiades sagen, nicht einem Fremden. Er war froh, daß Silveira ihn nicht bat, das Buch von Prado zu holen. Er wollte nicht, daß jemand anderes darin las und etwas dazu sagte.
Es blieb still, als er geendet hatte. In Silveira arbeitete es, Gregorius sah es daran, wie er an seinem Siegelring drehte, und an den kurzen, scheuen Blicken, die er ihm zuwarf.
»Und Sie sind einfach aufgestanden und haben die Schule verlassen? Einfach so?«
Gregorius nickte. Plötzlich bedauerte er, davon gesprochen zu haben; etwas Kostbares schien dadurch in Gefahr geraten zu sein. Er wolle jetzt zu schlafen versuchen, sagte er. Da holte Silveira ein Notizbuch hervor. Ob er ihm die Worte von Marc Aurel über die Regungen der eigenen Seele wiederholen würde? Als Gregorius sein Abteil verließ, saß Silveira über das Notizbuch gebeugt und fuhr mit dem Stift die Worte entlang.
Gregorius träumte von roten Zedern. Stets von neuem irrlichterten die Worte cedros vermelhos durch seinen unruhigen Schlaf. Es war der Name des Verlags, in dem Prados Aufzeichnungen erschienen waren. Er hatte ihm bisher keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Erst Silveiras Frage, wie er den Autor finden wolle, hatte ihn daran erinnert, daß er als erstes nach diesem Verlagshaus würde suchen müssen. Vielleicht war das Buch im Selbstverlag erschienen, hatte er beim Einschlafen gedacht, dann hätten die roten Zedern eine Bedeutung, die nur Amadeu de Prado kannte. Im Traum dann irrte er, den geheimnisvollen Namen auf den Lippen und das Telefonbuch unter dem Arm, durch mühsame, immerfort steil ansteigende Straßen von Lissabon, verloren in einer gesichtslosen Stadt, von der er nur wußte, daß sie auf Hügeln lag.
Als er gegen sechs Uhr aufwachte und vor seinem Abteilfenster den Namen SALAMANCA sah, öffnete sich, ohne daß es dafür die geringsten Vorboten gegeben hätte, eine
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