Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
wenige. Morgen vormittag würde er in einer Stadt aussteigen, wo das meiste, was die Menschen sagten, unverstanden an ihm vorbeirauschte. Er dachte an den Bubenbergplatz, den Bärenplatz, die Bundesterrasse, die Kirchenfeldbrücke. Inzwischen war es draußen stockdunkel. Gregorius tastete nach dem Geld, der Kreditkarte und der Ersatzbrille. Er hatte Angst.
Sie fuhren in den Bahnhof von Hendaye ein, dem französischen Grenzort. Der Wagen leerte sich. Als die Portugiesen es bemerkten, schreckten sie auf und griffen nach dem Gepäck auf der Ablage. »Isto ainda não é Irún« , sagte Gregorius: Das ist noch nicht Irún. Es war ein Satz von der Platte des Sprachkurses, nur der Ortsname war dort ein anderer. Die Portugiesen zögerten ob seiner unbeholfenen Aussprache und der Langsamkeit, mit der er die Wörter aneinanderreihte. Aber sie sahen hinaus, und nun erkannten sie das Bahnhofsschild. »Muito obrigada« , sagte die Frau. »De nada« , erwiderte Gregorius. Die Portugiesen setzten sich, der Zug fuhr an.
Gregorius sollte diese Szene nie vergessen. Es waren seine ersten portugiesischen Worte in der wirklichen Welt, und sie wirkten. Daß Worte etwas bewirkten, daß sie jemanden in Bewegung setzen oder aufhalten, zum Lachen oder Weinen bringen konnten: Schon als Kind hatte er es rätselhaft gefunden, und es hatte nie aufgehört, ihn zu beeindrucken. Wie machten die Worte das? War es nicht wie Magie? Doch in diesem Moment schien das Mysterium größer als sonst, denn es waren Worte, von denen er noch gestern morgen keine Ahnung gehabt hatte. Als er seinen Fuß ein paar Minuten später auf den Bahnsteig von Irún setzte, war alle Angst verflogen, und er ging mit sicheren Schritten auf den Schlafwagen zu.
6
Es war zehn Uhr, als sich der Zug, der bis zum nächsten Morgen die iberische Halbinsel durchqueren würde, in Bewegung setzte, die trüben Bahnhofslaternen eine nach der anderen hinter sich ließ und in die Dunkelheit glitt. Die beiden Abteile neben Gregorius waren leer geblieben. Zwei Abteile weiter, in Richtung Speisewagen, lehnte ein schlanker, hochgewachsener Mann mit graumeliertem Haar an seiner Tür. »Boa noite« , sagte er, als sich ihre Blicke trafen. »Boa noite« , sagte auch Gregorius.
Als er die unbeholfene Aussprache hörte, huschte ein Lächeln über das Gesicht des Fremden. Es war ein feingeschnittenes Gesicht mit klaren, bestimmten Zügen, denen etwas Vornehmes und Unnahbares anhaftete. Die dunkle Kleidung des Mannes war von auffallender Eleganz und ließ Gregorius an das Foyer eines Opernhauses denken. Nur die gelockerte Krawatte paßte nicht dorthin. Jetzt kreuzte der Mann die Arme über der Weste, lehnte auch den Kopf gegen die Tür und schloß die Augen. Mit geschlossenen Augen wirkte das Gesicht sehr weiß und strahlte Müdigkeit aus, eine Müdigkeit, die noch mit anderen Dingen zu tun haben mußte als mit der späten Stunde. Als der Zug nach ein paar Minuten seine volle Geschwindigkeit erreicht hatte, öffnete der Mann die Augen, nickte Gregorius zu und verschwand in seinem Abteil.
Gregorius hätte alles darum gegeben, einschlafen zu können, doch auch das monotone Klopfen der Räder, das sich aufs Bett übertrug, half nicht. Er richtete sich auf und preßte die Stirn gegen das Fenster. Verlassene kleine Bahnhöfe glitten vorbei, milchige, diffuse Lichtkugeln, pfeilschnell vorbeihuschende, unlesbare Ortsnamen, abgestellte Gepäckwagen, ein Kopf mit einer Mütze in einem Bahnwärterhäuschen, ein herrenloser Hund, ein Rucksack an einem Pfeiler, darüber ein blonder Haarschopf. Die Sicherheit, die ihm der Erfolg mit den ersten portugiesischen Worten verliehen hatte, begann zu bröckeln. Sie rufen einfach an. Tag oder Nacht. Er hörte die Stimme von Doxiades und dachte an ihre erste Begegnung vor zwanzig Jahren, als er noch einen stärkeren Akzent gehabt hatte.
»Blind? Nein. Sie haben bei den Augen einfach ein schlechtes Los gezogen. Wir kontrollieren regelmäßig die Netzhaut. Außerdem gibt es jetzt Laser. Kein Grund zur Panik.« Auf dem Weg zur Tür war er stehengeblieben und hatte ihn mit konzentriertem Blick angesehen. »Sonstige Sorgen?«
Gregorius hatte stumm den Kopf geschüttelt. Daß er die Scheidung von Florence kommen sah, hatte er ihm erst einige Monate später gesagt. Der Grieche hatte genickt, es schien ihn nicht zu überraschen. Manchmal fürchtet man sich vor etwas, weil man sich vor etwas anderem fürchtet , hatte er gesagt.
Kurz vor Mitternacht ging Gregorius in den
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