Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
gebeugten Rücken weiterschrieben. Das aufgeschlagene Heft ließ er auf dem Pult liegen. Mit der angespannten Langsamkeit von einem, der einen Überraschungsangriff vorbereitet, machte er zwei Schritte zum offenen Fenster hin, setzte sich auf den Rahmen, schwang die Beine darüber und war draußen.
Das letzte, was er drinnen sah, war das erstaunte und amüsierte Gesicht von Eva, dem Mädchen mit dem roten Haar, den Sommersprossen und dem Silberblick, der zu seiner Verzweiflung noch nie anders als spöttisch auf ihm, dem Jungen mit den dicken Brillengläsern und dem häßlichen Kassengestell, geruht hatte. Sie drehte sich zu ihrer Banknachbarin um und flüsterte ihr etwas ins Haar. »Unglaublich!« würde sie sagen. Sie sagte es bei jeder Gelegenheit. Die Unglaubliche hieß sie deshalb. »Unglaublich!« hatte sie gesagt, als sie von dem Spitznamen erfuhr.
Gregorius war mit schnellen Schritten zum Bärenplatz gegangen. Es war Markt, ein Stand reihte sich an den anderen, und man kam nur langsam voran. Als die Menge ihn zwang, neben einem Stand stehenzubleiben, fiel sein Blick auf die offene Kasse, einen einfachen Metallkasten mit einem Fach für die Münzen und einem anderen für die Scheine, die einen dicken Stoß bildeten. Die Marktfrau bückte sich gerade und hantierte unter der Auslage, ihr breites Hinterteil im groben Stoff eines karierten Rocks ragte in die Luft. Gregorius hatte sich langsam an die Kasse herangeschoben, während sein Blick kreisend über die Leute strich. Mit zwei Schritten war er hinter dem Ladentisch, nahm das Bündel Scheine mit einem Griff aus der Kasse und tauchte in der Menge unter. Als er schwer atmend die Gasse zum Bahnhof hinaufging und sich zu ruhigen Schritten zwang, wartete er darauf, daß jemand hinter ihm herriefe oder daß man mit festem Griff nach ihm faßte. Doch nichts war geschehen.
Sie wohnten in der Länggasse, in einem grauen Mietshaus mit schmutziggewordenem Verputz, und als Gregorius den Hausflur betrat, in dem es von morgens bis abends nach Kohl roch, sah er sich das Zimmer der kranken Mutter betreten, die er mit der Ankündigung überraschen wollte, daß sie bald das Meer sehen werde. Erst auf dem letzten Treppenabsatz vor der Wohnungstür wurde ihm klar, daß die ganze Sache unmöglich war, geradezu aberwitzig. Wie sollte er ihr und später dem Vater erklären, woher er plötzlich das viele Geld hatte? Er, der keinerlei Übung im Lügen hatte?
Auf dem Weg zurück zum Bärenplatz kaufte er einen Briefumschlag und steckte das Bündel Banknoten hinein. Die Frau im karierten Rock hatte ein verweintes Gesicht, als er wieder an ihrem Stand war. Er kaufte Früchte, und als sie in der anderen Ecke an der Waage hantierte, schob er den Umschlag unter das Gemüse. Kurz vor Ende der Pause war er wieder in der Schule, stieg durchs offene Fenster in die Baracke und setzte sich auf seinen Platz.
»Unglaublich!« sagte Eva, als sie ihn sah, und sie begann ihn respektvoller zu betrachten als bisher. Doch das war weniger wichtig, als er gedacht hätte. Wichtiger war, daß die Entdeckung über sich selbst, die ihm die letzte Stunde beschert hatte, kein Entsetzen in ihm hervorrief, sondern nur ein großes Erstaunen, das noch wochenlang nachhallte.
Der Zug verließ den Bahnhof von Bordeaux in Richtung Biarritz. Draußen war es fast Nacht, und Gregorius sah sich im Fenster. Was wäre aus ihm geworden, wenn derjenige, der damals das Geld aus der Kasse genommen hatte, über sein Leben bestimmt hätte, an der Stelle von demjenigen, der die alten, schweigsamen Wörter so zu lieben begann, daß er ihnen die Hoheit über alles weitere einräumte? Was hatten der damalige und der jetzige Ausbruch gemeinsam? Hatten sie überhaupt etwas gemeinsam?
Gregorius griff zu Prados Buch und suchte, bis er die lakonische Aufzeichnung gefunden hatte, die ihm der Buchhändler in der spanischen Buchhandlung am Hirschengraben übersetzt hatte:
Wenn es so ist, daß wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?
In Biarritz kamen ein Mann und eine Frau herein, die bei den Sitzen vor Gregorius stehenblieben und ihre Platzreservierung besprachen. Vinte e oito . Es dauerte, bis er die sich wiederholenden Laute als portugiesische Wörter identifiziert und seine Vermutung bestätigt hatte: achtundzwanzig. Er konzentrierte sich auf das, was die beiden sagten, und ab und zu gelang es ihm in der nächsten halben Stunde, ein Wort auszumachen, aber es waren
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