Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
ihn, etwas aus der Bibel auf Griechisch aufzuschreiben.
Gregorius konnte nicht widerstehen und schrieb: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.
Silveira holte seine Bibel und las diese Anfangssätze des Evangeliums nach Johannes.
»Also ist das Wort das Licht der Menschen«, sagte er. »Und so richtig gibt es die Dinge erst, wenn sie in Worte gefaßt worden sind.«
»Und die Worte müssen einen Rhythmus haben«, sagte Gregorius, »einen Rhythmus, wie ihn zum Beispiel die Worte bei Johannes haben. Erst dann, erst wenn sie Poesie sind, werfen sie wirklich Licht auf die Dinge. Im wechselnden Licht der Worte können dieselben Dinge ja ganz unterschiedlich aussehen.«
Silveira sah ihn an.
»Und deshalb muß einem, wenn ein Wort im Angesicht von dreihunderttausend Büchern fehlt, schwindlig werden.«
Sie lachten und lachten immer weiter, sie sahen sich an und wußten voneinander, daß sie auch über das frühere Lachen lachten, und darüber, daß man über das Wichtigste, was es gab, am besten lachte.
Ob er ihm die Fotografien von Isfahan überlassen würde, fragte Silveira später. Sie hängten sie in seinem Arbeitszimmer auf. Silveira setzte sich hinter seinen Schreibtisch, zündete eine Zigarette an und betrachtete die Bilder.
»Ich wünschte, das würden meine geschiedene Frau und meine Kinder sehen«, sagte er.
Bevor sie schlafen gingen, standen sie eine Weile schweigend in der Halle.
»Daß das jetzt auch schon wieder vorbei ist«, sagte Silveira. »Dein Aufenthalt hier, meine ich. Hier in meinem Haus.«
Gregorius konnte nicht einschlafen. Er stellte sich vor, wie sich sein Zug am nächsten Morgen in Bewegung setzen würde, er spürte das erste, sanfte Rucken. Er verfluchte den Schwindel und die Tatsache, daß Doxiades recht hatte.
Er machte Licht und las, was Prado über Intimität notiert hatte.
INTIMIDADE IMPERIOSA . GEBIETERISCHE INTIMITÄT . In der Intimität sind wir ineinander verschränkt, und die unsichtbaren Bande sind eine befreiende Fessel. Diese Verschränkung ist gebieterisch: Sie verlangt Ausschließlichkeit. Teilen ist verraten. Doch wir mögen, lieben und berühren nicht nur einen einzigen Menschen. Was tun? Regie führen über die verschiedenen Intimitäten? Pedantische Buchhaltung über Themen, Worte, Gesten? Über gemeinsames Wissen und Geheimnisse? Es wäre ein lautlos träufelndes Gift.
Es begann schon zu dämmern, als er in einen unruhigen Schlaf glitt und vom Ende der Welt träumte. Es war ein melodiöser Traum ohne Instrumente und Töne, ein Traum aus Sonne, Wind und Worten. Die Fischer mit ihren rauhen Händen riefen einander rauhe Dinge zu, der salzige Wind verwehte die Wörter, auch das Wort, das ihm entfallen war, jetzt war er im Wasser und tauchte steil nach unten, er schwamm mit aller Macht immer tiefer und spürte die Lust und Wärme in den Muskeln, wenn sie sich gegen die Kälte stemmten, er mußte den Bananendampfer verlassen, es eilte, er versicherte den Fischern, es habe mit ihnen nichts zu tun, doch sie verteidigten sich und sahen ihn voller Fremdheit an, als er mit dem Seesack an Land ging, begleitet von Sonne, Wind und Worten.
VIERTER TEIL
Die Rückkehr
49
Silveira war längst aus seinem Gesichtsfeld verschwunden, da winkte Gregorius immer noch. »Gibt es in Bern eine Firma, die Porzellan herstellt?« hatte er auf dem Perron gefragt. Gregorius hatte aus dem Abteilfenster ein Bild geschossen: Silveira, der die Zigarette gegen den Wind abschirmte, um sie anzünden zu können.
Die letzten Häuser von Lissabon. Gestern war er noch einmal ins Bairro Alto zu der kirchlichen Buchhandlung gegangen, wo er die Stirn an die nebelfeuchte Scheibe gelehnt hatte, bevor er zum erstenmal beim blauen Haus klingelte. Damals hatte er gegen die Versuchung ankämpfen müssen, zum Flughafen zu fahren und mit der nächsten Maschine nach Zürich zu fliegen. Jetzt mußte er gegen die Versuchung ankämpfen, an der nächsten Station auszusteigen.
Wenn mit jedem Meter, den der Zug hinter sich brachte, eine Erinnerung gelöscht würde und wenn sich außerdem auch die Welt Stück für Stück zurückverwandelte, so daß, wenn er im Bahnhof von Bern ankam, alles wäre wie zuvor: Wäre dann auch die Zeit seines Aufenthalts vernichtet?
Gregorius
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