Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
holte den Umschlag hervor, den ihm Adriana gegeben hatte. Es zerstört alles. Alles. Was er gleich lesen würde, hatte Prado nach der Spanienreise geschrieben. Nach dem Mädchen. Er dachte an das, was sie über seine Rückkehr aus Spanien gesagt hatte: Unrasiert und hohlwangig war er aus dem Taxi gestiegen, hatte heißhungrig alles verschlungen, ein Schlafpulver genommen, einen Tag und eine Nacht geschlafen.
Während der Zug auf Vilar Formoso zufuhr, wo sie die Grenze passieren würden, übersetzte sich Gregorius den Text, den Prado in winzigen Buchstaben hingeschrieben hatte.
CINZAS DA FUTILIDADE. ASCHE DER VERGEBLICHKEIT . Es ist eine Ewigkeit her, daß mich Jorge mitten in der Nacht anrief, weil ihn die Angst vor dem Tode angefallen hatte. Nein, keine Ewigkeit. Es war in einer anderen Zeit , einer vollkommen anderen Zeit. Dabei sind es gerade mal drei Jahre, drei ganz gewöhnliche, langweilige Kalenderjahre. Estefânia. Er sprach damals von Estefânia. Die Goldberg-Variationen. Sie hatte sie für ihn gespielt, und er hätte sie auf seinem Steinway gern selbst gespielt. Estefânia Espinhosa . Was für ein zauberhafter, betörender Name!, dachte ich in jener Nacht. Ich wollte die Frau niemals sehen, keine Frau konnte diesem Namen genügen, es müßte eine Enttäuschung sein. Wie konnte ich wissen, daß es umgekehrt war: Der Name konnte ihr nicht genügen.
Die Angst davor, daß das Leben unvollständig bliebe, ein Torso; das Bewußtsein, nicht mehr der werden zu können, auf den hin man sich angelegt hatte. So hatten wir die Angst vor dem Tode schließlich gedeutet. Doch wie kann man sich, fragte ich, vor der fehlenden Ganzheit und Stimmigkeit des Lebens fürchten, wo man sie doch, wenn sie einmal zur unwiderruflichen Tatsache geworden ist, gar nicht erlebt? Jorge schien es zu verstehen. Was sagte er?
Warum blättere ich nicht, warum sehe ich nicht nach? Warum will ich nicht wissen, was ich damals dachte und schrieb? Woher diese Gleichgültigkeit? Ist es Gleichgültigkeit? Oder ist der Verlust größer, tiefer?
Wissen wollen, wie man früher dachte und wie daraus wurde, was man jetzt denkt: Auch das gehörte, wenn es sie gäbe, zur Ganzheit eines Lebens. Und so hätte ich also verloren, was den Tod angstvoll macht? Den Glauben an eine Stimmigkeit des Lebens, um die es sich zu kämpfen lohnt und die wir dem Tod abzuringen versuchen?
Loyalität, sagte ich zu Jorge, Loyalität. Darin erfinden wir unsere Stimmigkeit. Estefânia. Warum konnte die Brandung des Zufalls sie nicht an einen anderen Ort schwemmen? Warum gerade zu uns? Warum mußte sie uns auf eine Probe stellen, der wir nicht gewachsen waren? Die wir beide nicht bestanden haben, jeder auf seine Weise?
›Du bist mir zu hungrig. Es ist wunderschön mit dir. Aber du bist mir zu hungrig. Ich kann diese Reise nicht wollen. Siehst du, es wäre deine Reise, ganz allein deine. Es könnte nicht unsere sein.‹ Und sie hatte recht: Man darf die anderen nicht zu Bausteinen des eigenen Lebens machen, zu Wasserträgern beim Rennen um die eigene Seligkeit.
Finis terrae . Nie bin ich so wach gewesen wie dort. Und so nüchtern. Seither weiß ich: Mein Rennen ist zu Ende. Ein Rennen, von dem ich nicht gewußt habe, daß ich es lief, schon immer. Ein Rennen ohne Konkurrenten, ohne Ziel, ohne Belohnung. Ganzheit? Espejismo , sagen die Spanier, ich habe das Wort in jenen Tagen in der Zeitung gelesen, es ist das einzige, was ich noch weiß. Luftspiegelung. Fata Morgana.
Unser Leben, das sind flüchtige Formationen aus Treibsand, vom einen Windstoß gebildet, vom nächsten zerstört. Gebilde aus Vergeblichkeit, die verwehen, noch bevor sie sich richtig gebildet haben.
Er war nicht mehr er selbst , hatte Adriana gesagt. Und mit dem fremden, dem entfremdeten Bruder wollte sie nichts zu tun haben. Weit fort. Ganz weit fort.
Wann war jemand er selbst? Wenn er so war wie immer? So, wie er sich selbst sah? Oder so, wie er war, wenn die glühende Lava der Gedanken und Gefühle alle Lügen, Masken und Selbsttäuschungen unter sich begrub? Oft waren es die anderen, die beklagten, daß jemand nicht mehr er selbst sei. Vielleicht hieß es dann in Wirklichkeit: Er ist nicht mehr so, wie wir ihn gerne hätten? War das Ganze also am Ende nicht viel mehr als eine Art Kampfparole gegen eine drohende Erschütterung des Gewohnten, getarnt als Kummer und Besorgnis um das angebliche Wohl des anderen?
Auf der Weiterfahrt nach Salamanca schlief Gregorius ein. Und dann geschah etwas,
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