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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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der April. Gregorius setzte sich auf das Moos der Treppenstufen vor dem Eingang. Ich saß auf dem warmen Moos der Eingangstreppe und dachte an den gebieterischen Wunsch meines Vaters, ich möge Arzt werden – einer also, der es vermöchte, Menschen wie ihn von den Schmerzen zu erlösen. Ich liebte ihn für sein Vertrauen und verfluchte ihn der erdrückenden Last wegen, die er mir mit seinem anrührenden Wunsch aufbürdete.
    Plötzlich begann Gregorius zu weinen. Er nahm die Brille ab, verbarg den Kopf zwischen den Knien und ließ die Tränen ohne Gegenwehr aufs Moos tropfen. Em vão , vergeblich , sei eines von Prados Lieblingswörtern gewesen, hatte Maria João gesagt. Gregorius sagte das Wort und wiederholte es, langsam, dann immer schneller, bis die Wörter ineinander und mit den Tränen verschmolzen.
    Später ging er hinauf in Prados Klassenzimmer und fotografierte den Blick auf die Mädchenschule. Von der Mädchenschule aus hielt er den umgekehrten Blick fest: das Fenster, an dem Maria João die Lichtpunkte der Sonne gesehen hatte, die sich in Prados Opernglas brach.
    Er erzählte Maria João von den Bildern, als er am Mittag in ihrer Küche saß. Und dann, auf einmal, brach es aus ihm heraus, er sprach von der Ohnmacht in Coimbra, vom vergessenen Homerischen Wort und von der panischen Angst vor einer neurologischen Untersuchung.
    Später saßen sie zusammen am Küchentisch und lasen, was Maria Joãos Lexikon über Schwindel sagte. Er konnte ganz harmlose Ursachen haben, Maria João zeigte ihm die Sätze, fuhr sie mit dem Zeigefinger entlang, übersetzte sie, wiederholte die wichtigen Wörter.
    Tumor . Stumm zeigte Gregorius auf das Wort. Ja, sicher, sagte Maria João, aber er müsse lesen, was dazu noch gesagt werde, vor allem, daß in diesem Fall der Schwindel nicht ohne andere, schwere Ausfallserscheinungen auftrete, wie es sie bei ihm doch nicht gebe.
    Sie sei froh, sagte sie zum Abschied, daß er sie neulich auf die Reise in die Vergangenheit mitgenommen habe. Sie habe auf diese Weise die sonderbare Mischung aus Nähe und Distanz spüren können, die in ihr sei, wenn es um Amadeu gehe. Dann ging sie zum Schrank und holte die große Schachtel mit den Intarsien heraus. Sie reichte ihm den versiegelten Umschlag mit Prados Aufzeichnungen über Fátima.
    »Ich werde es, wie gesagt, nicht lesen«, sagte sie. »Und ich denke, es ist bei Ihnen gut aufgehoben. Vielleicht sind Sie am Ende derjenige von uns allen, der ihn am besten kennt. Ich bin dankbar für die Art, in der Sie über ihn sprechen.«
    Als Gregorius später auf der Fähre über den Tejo saß, sah er Maria João vor sich, wie sie ihm zum Abschied zugewinkt hatte, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie war diejenige, die er als letzte kennengelernt hatte, und sie war diejenige, die er am meisten vermissen würde. Ob er ihr schreiben werde, wie die Untersuchung ausgegangen sei?, hatte sie gefragt.

46
     
    Als Gregorius vor der Tür stand, kniff João Eça die Augen zusammen, und seine Züge wurden hart wie bei jemandem, der sich gegen einen großen Schmerz wappnet.
    »Es ist Samstag«, sagte er.
    Sie setzten sich auf die gewohnten Plätze. Das Schachbrett fehlte, der Tisch sah nackt aus.
    Gregorius erzählte vom Schwindel, von der Angst, von den Fischern am Ende der Welt.
    »Sie kommen also nicht mehr«, sagte Eça.
    Statt von ihm und seinen Sorgen sprach er von sich selbst, und bei jedem anderen hätte das Gregorius befremdet. Nicht bei diesem gefolterten, verschlossenen, einsamen Mann. Seine Worte gehörten zu den kostbarsten, die er gehört hatte.
    Wenn sich der Schwindel als harmlos herausstelle und es den Ärzten gelinge, ihn zu vertreiben, dann komme er zurück, sagte er. Um richtig Portugiesisch zu lernen und die Geschichte des portugiesischen Widerstands zu schreiben. Er sagte es mit fester Stimme, doch die Zuversicht, die er mit Macht hineinlegte, klang hohl, und er war sicher, daß sie auch für Eça hohl klangen.
    Mit zitternden Händen holte Eça das Schachbrett aus dem Regal und stellte die Figuren auf. Eine Weile saß er mit geschlossenen Augen da. Dann stand er auf und holte eine Sammlung von Schachpartien.
    »Hier. Aljechin gegen Capablanca. Ich möchte, daß wir sie zusammen nachspielen.«
    »Kunst gegen Wissenschaft«, sagte Gregorius.
    Eça lächelte. Gregorius wünschte, er hätte dieses Lächeln auf einen Film bannen können.
    Manchmal versuche er sich vorzustellen, wie die letzten Minuten seien, nachdem man die tödlichen

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