Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
in dem Prado Mendes das Leben gerettet hatte, wo die Gehirnkarte gehangen hatte und wo er Jorges Schachspiel vergraben hatte.
»Er arbeitet so gern hier unten«, sagte Adriana, als sie in der Praxis standen. »Mit mir. Mit mir zusammen.« Sie strich mit der Hand über den Untersuchungstisch. »Sie lieben ihn alle. Lieben und bewundern ihn.«
Sie lächelte ein gespenstisch leichtes, fernes Lächeln.
»Manche kommen, auch wenn ihnen nichts fehlt. Sie erfinden dann etwas. Nur um ihn zu sehen.«
Gregorius’ Gedanken rasten. Er ging zum Tisch mit den veralteten Spritzen und nahm eine in die Hand. Ja, so hätten die Spritzen damals ausgesehen, sagte er. Wie anders sie heute seien!
Die Worte erreichten Adriana nicht, sie zupfte am Papiertuch auf dem Behandlungstisch. Ein Rest des Lächelns von vorhin lag noch auf ihren Zügen.
Ob sie wisse, was aus der Gehirnkarte geworden sei, fragte er. Sie müßte heute bereits Seltenheitswert besitzen.
»›Warum brauchst du die Karte eigentlich‹, frage ich ihn manchmal, ›Körper sind doch für dich wie aus Glas‹. ›Es ist halt eine Karte‹, sagt er dann. Er liebt Karten. Landkarten. Eisenbahnkarten. In Coimbra, während des Studiums, hat er einmal einen geheiligten Anatomieatlas kritisiert. Die Professoren mochten ihn nicht. Er ist respektlos. Einfach so überlegen.«
Gregorius wußte nur noch eine Lösung. Er sah auf die Uhr.
»Ich bin spät dran«, sagte er. »Kann ich Ihr Telefon benutzen?«
Er machte die Tür auf und ging voran in den Hausflur.
Ihr Gesicht war verstört, als sie abschloß. Eine senkrechte Furche teilte die Stirn und gab ihr das Aussehen von jemandem, in dem Dunkelheit und Verwirrung herrschen.
Gregorius ging auf die Treppe zu.
» Adeus «, sagte Adriana und schloß die Haustür auf.
Es war ihre herbe, abweisende Stimme, die er von den ersten Besuchen kannte. Sie stand kerzengerade und bot aller Welt die Stirn.
Gregorius ging langsam auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Er sah ihr in die Augen. Ihr Blick war versiegelt und abweisend. Er streckte die Hand nicht aus. Sie würde sie nicht nehmen.
» Adieu «, sagte er. »Alles Gute.« Dann war er draußen.
48
Gregorius gab Silveira die Fotokopie von Prados Buch. Er war über eine Stunde durch die Stadt geirrt, bis er ein Kaufhaus gefunden hatte, das noch geöffnet hatte und wo man kopieren konnte.
»Das ist…«, sagte Silveira heiser, »ich…«
Dann sprachen sie über den Schwindel. Seine augenkranke Schwester, sagte Silveira, leide seit Jahrzehnten unter Schwindel, man habe die Ursache nicht finden können, sie habe sich einfach daran gewöhnt.
»Ich bin einmal mit ihr beim Neurologen gewesen. Und verließ die Praxis mit dem Gefühl: Steinzeit. Unser Wissen vom Gehirn ist noch steinzeitlich. Ein paar Areale, ein paar Aktivitätsmuster, ein paar Stoffe. Mehr weiß man nicht. Ich hatte das Gefühl: Die wissen noch nicht einmal, wonach sie suchen sollen.«
Sie sprachen über die Angst, die aus der Ungewißheit entstand. Plötzlich spürte Gregorius, daß ihn etwas beunruhigte. Es dauerte, bis er verstand: vorgestern, bei der Rückkehr, das Gespräch mit Silveira über die Reise, heute das Gespräch mit João Eça, jetzt wieder Silveira. Konnten zwei Intimitäten sich blockieren, behindern, vergiften? Er war froh, daß er Eça nichts von der Ohnmacht in der Bibliothek von Coimbra erzählt hatte, so hatte er etwas, das er nur mit Silveira teilte.
Was denn eigentlich das Homerische Wort gewesen sei, das er vergessen habe, fragte Silveira jetzt. Λ ίοтϱον, sagte Gregorius, ein Schurfeisen zum Reinigen des Saalbodens.
Silveira lachte, Gregorius stimmte ein, sie lachten und lachten, sie brüllten vor Lachen, zwei Männer, die sich für einen Moment über alle Angst, alle Trauer, alle Enttäuschung und über ihre ganze Lebensmüdigkeit zu erheben vermochten. Die im Lachen auf kostbare Weise verbunden waren, wenngleich die Angst, die Trauer und die Enttäuschung ihre ganz eigenen waren und ihnen ihre ganz eigene Einsamkeit schufen.
Als sein Lachen verebbte und er das Gewicht der Welt wieder spürte, dachte Gregorius daran, wie er mit João Eça über das verkochte Mittagessen des Heims gelacht hatte.
Silveira ging in sein Arbeitszimmer und kam mit der Serviette zurück, auf die ihm Gregorius im Speisewagen des Nachtzugs in hebräischen Worten aufgeschrieben hatte: Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht . Er solle es ihm noch einmal vorlesen, sagte Silveira. Dann bat er
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