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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schleuse der Erinnerung, die vier Jahrzehnte lang verschlossen geblieben war. Das erste, was sie freigab, war der Name einer anderen Stadt: Isfahan . Plötzlich war er da, der Name der persischen Stadt, in die er nach der Schule hatte gehen wollen. Der Name, der so viel geheimnisvolle Fremdheit in sich trug, berührte Gregorius in diesem Moment wie die Chiffre für ein anderes mögliches Leben, das er nicht zu leben gewagt hatte. Und als der Zug nun den Bahnhof von Salamanca verließ, durchlebte er nach der langen Zeit noch einmal die Empfindungen, in denen sich jenes andere Leben damals sowohl aufgetan als auch verschlossen hatte.
    Begonnen hatte es damit, daß der Hebräischlehrer sie bereits nach einem Jahr das Buch Hiob lesen ließ. Es war für Gregorius wie ein Rausch gewesen, als er die Sätze zu verstehen begann und sich ihm ein Weg auftat, der mitten in den Orient hineinführte. Bei Karl May klang der Orient sehr deutsch, nicht nur wegen der Sprache. Jetzt, in dem Buch, das man von hinten nach vorne las, klang er wie der Orient. Elifas von Teman, Bildad von Schuach, Zofar von Naama. Die drei Freunde von Hiob. Allein schon die Namen, die in ihrer betörenden Fremdheit von jenseits aller Ozeane zu kommen schienen. Was war das für eine wunderbare, traumgleiche Welt!
    Danach hatte er eine Weile Orientalist werden wollen. Einer, der sich im Morgenland auskannte, er liebte das Wort, es führte hinaus aus der Länggasse in ein helleres Licht. Kurz vor der Maturität hatte er sich auf die Stelle eines Hauslehrers in Isfahan beworben, die ein Schweizer Industrieller für seine Kinder ausgeschrieben hatte. Widerstrebend – voller Sorge um ihn, aber auch voller Angst vor der Lücke, die er hinterlassen würde – hatte ihm der Vater die dreizehn Franken dreißig für die persische Grammatik gegeben, und er hatte die neuen Chiffren des Orients in seiner Kammer auf die kleine Wandtafel geschrieben.
    Doch dann hatte ein Traum angefangen, ihn zu verfolgen, ein Traum, den er die ganze Nacht über zu träumen schien. Es war ein denkbar einfacher Traum gewesen, und ein Teil der Qual hatte in dieser Einfachheit bestanden, die sich zu steigern schien, je öfter das Bild wiederkehrte. Denn eigentlich hatte der Traum nur aus einem einzigen Bild bestanden: Heißer orientalischer Sand, Wüstensand, weiß und sengend, war ihm vom Gluthauch Persiens an die Brille geweht worden und hatte sich dort als glühende Kruste festgesetzt, die ihm alle Sicht raubte, um dann die Gläser zum Schmelzen zu bringen und sich in seine Augen zu fressen.
    Nach zwei, drei Wochen, in denen ihn der Traum stets von neuem ansprang und bis weit in den Tag hinein verfolgte, hatte er die persische Grammatik zurückgebracht und dem Vater das Geld wiedergegeben. Die drei Franken dreißig, die er behalten durfte, hatte er in einer kleinen Dose aufbewahrt, und es war gewesen, als besäße er nun persisches Geld.
    Was wäre aus ihm geworden, wenn er die Angst vor dem sengenden Staub des Orients überwunden hätte und gefahren wäre? Gregorius dachte an die Kaltblütigkeit, mit der er am Bärenplatz in die Kasse der Marktfrau gegriffen hatte. Hätte sie ausgereicht, um mit all dem fertig zu werden, was in Isfahan auf ihn eingestürmt wäre? Der Papyrus. Warum tat, was er jahrzehntelang für einen Scherz gehalten hatte, der ihm nichts anhaben konnte, mit einemmal so weh?
    Silveiras Teller war schon leer, als Gregorius den Speisewagen betrat, und auch die beiden Portugiesen, mit denen er am Vorabend seine ersten Worte getauscht hatte, waren bereits bei der zweiten Tasse Kaffee.
    Er hatte eine Stunde hinter sich, in der er wach auf dem Bett gelegen und an den Briefträger gedacht hatte, der gegen neun die Halle des Gymnasiums zu betreten und die Post beim Hausmeister abzugeben pflegte. Heute würde sein Brief dabei sein. Kägi würde seinen Augen nicht trauen. Mundus lief aus seinem Leben davon. Jeder andere, aber doch nicht er. Die Nachricht würde die Runde machen, treppauf, treppab, und unter den Schülern auf den Stufen vor dem Eingang gäbe es kein anderes Thema.
    Gregorius war in Gedanken die Kollegen durchgegangen und hatte sich ausgemalt, was sie denken, fühlen und sagen würden. Dabei hatte er eine Entdeckung gemacht, die wie ein Stromstoß durch ihn hindurchgegangen war: Er war sich bei keinem einzigen sicher. Zuerst hatte es anders ausgesehen: Burri etwa, Major und eifriger Kirchgänger, fand es unverständlich, geradezu abartig, und verwerflich, denn was

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