Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
gesessen, es war Lachen zu hören und das Klirren von Gläsern. Widerstrebend war Gregorius hinübergegangen, weil er ein Buch brauchte. Bei seinem Eintreten las jemand den Satz vor. Ist das nicht ein brillanter Satz? , hatte ein Kollege von Florence ausgerufen. Dabei schüttelte er seine Künstlermähne und legte die Hand auf Florences bloßen Arm. Diesen Satz werden nur ganz wenige verstehen , hatte Gregorius gesagt. Mit einem Schlag füllte betretene Stille den Raum. Und du bist einer dieser Auserwählten? , fragte Florence in schneidendem Ton. Betont langsam hatte Gregorius das Buch aus dem Regal genommen und war ohne ein Wort hinausgegangen. Es dauerte Minuten, bis er von drüben wieder etwas hörte.
Wenn er danach DAS BUCH DER UNRUHE irgendwo gesehen hatte, war er schnell weitergegangen. Sie hatten nie über die Episode gesprochen. Sie gehörte zu all dem, was unbearbeitet liegenblieb, als sie sich trennten.
Jetzt nahm Gregorius das Buch aus dem Regal.
»Wissen Sie, wie mir dieses unglaubliche Buch vorkommt?« fragte Senhor Simões, als er den Preis in die Kasse tippte. »Es ist, als hätte Marcel Proust die Essais von Michel de Montaigne geschrieben.«
Gregorius war zum Umfallen müde, als er mit seiner schweren Tüte oben an der Rua Garrett beim Denkmal von Camões ankam. Aber er mochte nicht ins Hotel zurück. Er war dabei, in dieser Stadt anzukommen, und er wollte mehr von diesem Gefühl, damit er sicher sein konnte, daß er heute abend nicht wieder beim Flughafen anrufen würde, um einen Rückflug zu buchen. Er trank einen Kaffee und stieg dann in die Straßenbahn, die ihn zum Cemitério dos Prazeres bringen würde, in dessen Nähe Vítor Coutinho wohnte, der verrückte Alte, der vielleicht etwas über Amadeu de Prado wußte.
9
Mit der hundert Jahre alten Straßenbahn von Lissabon fuhr Gregorius zurück in das Bern seiner Kindheit. Der Tramwagen, der ihn holpernd, schüttelnd und klingelnd durchs Bairro Alto fuhr, schien sich in nichts von den alten Tramwagen zu unterscheiden, mit denen er, als er noch nichts zu zahlen brauchte, stundenlang durch die Straßen und Gassen Berns gefahren war. Die gleichen Bänke aus lackierten Holzleisten, die gleiche Klingelschnur neben den Haltegriffen, die von der Decke herunterhingen, der gleiche Metallarm, den der Fahrer für das Bremsen und Beschleunigen betätigte und dessen Wirkungsweise Gregorius heute genausowenig verstand wie damals. Irgendwann, als er schon die Mütze des Progymnasiums trug, waren die alten Tramwagen durch neue ersetzt worden. Ihre Fahrt war leiser und fließender, die anderen Schüler rissen sich darum, in den neuen Wagen fahren zu dürfen, und nicht wenige erschienen zu spät zum Unterricht, weil sie auf einen der neuen Wagen gewartet hatten. Gregorius hatte sich nicht getraut, es zu sagen, aber es störte ihn, daß sich die Welt veränderte. Er nahm all seinen Mut zusammen, fuhr zum Tramdepot und fragte einen Mann im Arbeitskittel, was mit den alten Wagen geschehe. Sie würden nach Jugoslawien verkauft, sagte der Mann. Er mußte ihm das Unglück angesehen haben, denn er ging ins Büro und kam mit einem Modell der alten Wagen zurück. Gregorius besaß es noch heute und hütete es wie einen kostbaren, unersetzlichen Fund aus vorgeschichtlicher Zeit. Es stand ihm vor Augen, als die Lissaboner Staßenbahn in der Endschleife ratternd und quietschend zum Stillstand kam.
Daran, daß der Portugiese mit dem unerschrockenen Blick tot sein könnte, hatte Gregorius bisher nicht gedacht. Der Gedanke kam ihm erst jetzt, als er vor dem Friedhof stand. Langsam und beklommen ging er durch die Gassen der Totenstadt, die von lauter kleinen Mausoleen gesäumt wurden.
Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da blieb er vor einer hohen Grabkammer aus weißem Marmor stehen, der von der Witterung fleckig geworden war. Zwei Tafeln mit verzierten Ecken und Rändern waren in den Stein gehauen worden. AQUI JAZ ALEXANDRE HOR·CIO DE ALMEIDA PRADO QUE NASCEU EM 28 DE MAIO DE 1890 E FALECEU EM 9 DE JUNHO DE 1954, WAR AUF DER OBEREN TAFEL ZU LESEN, UND AQUI JAZ MARIA PIEDADE REIS DE PRADO QUE NASCEU EM 12 DE JANEIRO DE 1899 E FALECEU EM 24 DE OUTUBRO DE 1960 . Auf der unteren Tafel, die deutlich heller war und weniger bemoost, las Gregorius: AQUI JAZ F·TIMA AM É LIA CLEMÍNCIA GALHARDO DE PRADO QUE NASCEU EM 1 DE JANEIRO DE 1926 E FALECEU EM 3 DE FEVEREIRO DE 1961 , und darunter, mit weniger Patina auf den Buchstaben, AQUI JAZ AMADEU IN·CIO DE ALMEIDA PRADO
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