Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Dinge, mit denen er es durch die alten Texte hindurch ein Leben lang zu tun gehabt hatte. Warum? Der Richter war seit einem halben Jahrhundert tot, die Revolution lag dreißig Jahre zurück, und auch der Tod des Sohnes gehörte an jene ferne Stelle der Vergangenheit. Warum also? Was ging ihn das alles an? Wie hatte es geschehen können, daß ein einziges portugiesisches Wort und eine Telefonnummer auf seiner Stirn ihn aus seinem geordneten Leben rissen und fern von Bern in das Leben von Portugiesen verwickelten, die nicht mehr lebten?
In der Buchhandlung am Rossio sprang ihm eine Bildbiographie über António de Oliveira Salazar in die Augen, den Mann, der eine entscheidende, vielleicht tödliche Rolle im Leben der Prados gespielt hatte. Der Umschlag zeigte einen ganz in Schwarz gekleideten Mann mit herrischem, aber nicht unsensiblem Gesicht, mit hartem, ja fanatischem Blick, der jedoch Intelligenz verriet. Gregorius blätterte. Salazar war, dachte er, ein Mann, der die Macht gesucht hatte, aber nicht einer, der sie mit blinder Brutalität und dumpfer Gewalt an sich gerissen hatte, und auch nicht einer, der sie genossen hatte wie die üppige, überbordende Fülle von übersättigenden Speisen auf einem orgiastischen Bankett. Er hatte, um sie zu bekommen und für so lange Zeit zu behalten, auf alles in seinem Leben verzichtet, was sich nicht der unermüdlichen Wachheit, der bedingungslosen Disziplin und dem asketischen Ritual gefügt hätte. Der Preis war hoch gewesen, man konnte ihn an den strengen Zügen und der Angestrengtheit des seltenen Lächelns ablesen. Und die unterdrückten Bedürfnisse und Impulse dieses kargen Lebens inmitten des Regierungsprunks hatten sich – bis zur Unkenntlichkeit entstellt von der Rhetorik der Staatsraison – in erbarmungslosen, scharfrichterlichen Anweisungen entladen.
Im Dunkeln lag Gregorius wach und dachte an die große Distanz, die es zwischen ihm und dem Weltgeschehen stets gegeben hatte. Nicht, daß er sich für die politischen Ereignisse jenseits der Grenze nicht interessiert hätte. Im April 1974, als die Diktatur in Portugal zu Ende ging, waren einige aus seiner Generation hingefahren, und sie hatten es ihm übelgenommen, als er sagte, politischer Tourismus, das sei nichts für ihn. Es war also nicht so, daß er, wie ein blinder Stubenhocker, nicht Bescheid wußte. Aber es war immer ein bißchen so gewesen, als lese er Thukydides. Einen Thukydides, der in der Zeitung stand und den man später in der Tagesschau sah. Hatte es mit der Schweiz und ihrer Unberührtheit zu tun? Oder nur mit ihm? Mit seiner Faszination durch Wörter, hinter denen die Dinge, wie grausam, blutig und ungerecht auch immer, zurücktraten? Vielleicht auch mit seiner Kurzsichtigkeit?
Wenn der Vater, der es nicht weiter als zum Unteroffizier gebracht hatte, von der Zeit sprach, als seine Kompanie am Rhein gelegen hatte, wie er sagte, hatte er, der Sohn, stets das Gefühl von etwas Unwirklichem gehabt, von etwas ein bißchen Komischem, dessen Bedeutung hauptsächlich darin bestand, daß man sich daran als etwas Aufregendes erinnern konnte, als etwas, das aus der Banalität des übrigen Lebens herausragte. Der Vater hatte das gespürt, und einmal war ihm der Kragen geplatzt: Wir hatten Angst, eine Heidenangst , hatte er gesagt, denn es hätte ja leicht anders kommen können, und dann gäbe es dich vielleicht überhaupt nicht. Geschrien hatte er nicht, das tat der Vater nie; trotzdem waren es wütende Worte gewesen, die der Sohn mit Scham gehört und nie vergessen hatte.
War es deshalb, daß er jetzt wissen wollte, wie es gewesen war, Amadeu de Prado zu sein? Um durch dieses Verstehen hindurch näher an die Welt heranzurücken?
Er machte Licht und las noch einmal Sätze, die er vorhin schon gelesen hatte.
NADA. NICHTS . Aneurysma. Jeder Moment kann der letzte sein. Ohne die geringste Vorahnung, in vollkommener Unwissenheit, werde ich eine unsichtbare Wand durchschreiten, hinter der nichts ist, nicht einmal Dunkelheit. Mein nächster Schritt, er kann der Schritt durch diese Wand sein. Ist es nicht unlogisch, davor Angst zu haben, wo ich dieses plötzliche Erlöschen doch gar nicht mehr erleben werde und weiß, daß es sich so verhält?
Gregorius rief Doxiades an und fragte ihn, was ein Aneurysma sei. »Ich weiß, daß das Wort eine Erweiterung bedeutet. Aber wovon?« Es sei eine krankhafte Ausweitung eines arteriellen Blutgefäßes durch angeborene oder erworbene Wandveränderung, sagte der
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