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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Grieche. Ja, auch im Gehirn, oft sogar. Vielfach merkten die Leute nichts davon, und es könne lange – jahrzehntelang – gutgehen. Dann platze das Gefäß plötzlich auf, und das sei das Ende. Warum er das mitten in der Nacht wissen wolle? Ob er Beschwerden habe? Und wo er überhaupt sei?
    Gregorius spürte, daß es ein Fehler gewesen war, den Griechen anzurufen. Er fand die Worte nicht, die ihrer langjährigen Vertrautheit entsprochen hätten. Steif und stockend sagte er etwas über die alte Straßenbahn, über einen kauzigen Antiquar und den Friedhof, auf dem der tote Portugiese lag. Es ergab keinen Sinn, und er hörte es. Es entstand eine Pause.
    »Gregorius?« fragte Doxiades schließlich.
    »Ja?«
    »Was heißt Schach auf portugiesisch?«
    Gregorius hätte ihn für die Frage umarmen mögen.
    »Xadrez« , sagte er, und die Trockenheit im Mund war verschwunden.
    »Mit den Augen alles in Ordnung?«
    Jetzt klebte die Zunge wieder am Gaumen. »Ja.« Und nach einer weiteren Pause fragte Gregorius:
    »Haben Sie den Eindruck, daß die Leute Sie sehen, wie Sie sind?«
    Der Grieche brach in lautes Lachen aus. »Natürlich nicht !«
    Es machte Gregorius hilflos, daß jemand, und dazu noch Doxiades, über das lachte, worüber Amadeu de Prado zutiefst erschrocken war. Er nahm Prados Buch in die Hand, wie um sich daran festzuhalten.
    »Ist wirklich alles in Ordnung?« fragte der Grieche in die erneute Stille hinein.
    Ja, sagte Gregorius, alles in Ordnung.
    Sie beendeten das Gespräch auf die gewohnte Weise.
    Verstört lag Gregorius im Dunkeln und versuchte herauszufinden, was es war, das zwischen ihn und den Griechen getreten war. Schließlich war er der Mann, dessen Worte ihm den Mut gegeben hatten, diese Reise zu machen, trotz des Schnees, der in Bern zu fallen begann. Sein Studium hatte er als Taxifahrer in Thessaloniki verdient. Ein ziemlich rauher Verein, die Taxifahrer , hatte er einmal gesagt. Hin und wieder konnte auch bei ihm Rauheit aufblitzen. Etwa wenn er fluchte oder wenn er heftig an der Zigarette zog. Die dunklen Bartstoppeln und das dichte schwarze Haar auf den Unterarmen wirkten in solchen Momenten wild und unbezähmbar.
    Er hielt es also für selbstverständlich, daß die Wahrnehmung der anderen ihn verfehlte. War es möglich, daß einem das gar nichts ausmachte? Und war das mangelnde Sensibilität? Oder erstrebenswerte innere Unabhängigkeit? Es begann zu dämmern, als Gregorius schließlich einschlief.

11
     
    Das kann nicht sein, das ist unmöglich. Gregorius nahm die neue, federleichte Brille ab, rieb sich die Augen und setzte sie wieder auf. Es war möglich: Er sah besser als jemals zuvor. Das galt besonders für die obere Hälfte der Gläser, durch die er in die Welt hinausblickte. Die Dinge schienen ihn förmlich anzuspringen, es war, als drängten sie sich danach, seinen Blick auf sich zu ziehen. Und da er nicht mehr das bisherige Gewicht auf der Nase spürte, das die Brille zu einem schützenden Bollwerk gemacht hatte, schienen sie in ihrer neuen Klarheit aufdringlich, ja bedrohlich. Ein bißchen machten ihn die neuen Eindrücke auch schwindlig, und er nahm die Brille wieder ab. Über César Santaréms mürrisches Gesicht huschte ein Lächeln.
    »Und jetzt wissen Sie nicht, ob die alte oder die neue besser ist«, sagte er.
    Gregorius nickte und stellte sich vor den Spiegel. Das schmale, rötliche Gestell und die neuen Gläser, die nicht mehr wie martialische Barrieren vor seinen Augen wirkten, machten einen anderen aus ihm. Einen, dem sein Aussehen wichtig war. Einen, der elegant aussehen wollte, chic. Gut, das war eine Übertreibung; aber trotzdem. Santaréms Assistentin, die ihm das Gestell aufgeschwatzt hatte, machte aus dem Hintergrund eine anerkennende Geste. Santarém sah es. »Tem razão« , sagte er, sie hat recht. Gregorius spürte Wut in sich aufsteigen. Er setze die alte Brille auf, ließ die neue einpacken und zahlte schnell.
    Zu Mariana Eças Praxis im Alfama-Viertel war es eine halbe Stunde zu Fuß. Gregorius brauchte vier Stunden. Es begann damit, daß er sich jedesmal, wenn er eine Bank fand, setzte und die Brillen wechselte. Mit den neuen Gläsern war die Welt größer, und der Raum besaß zum erstenmal wirklich drei Dimensionen, in die hinein sich die Dinge ungehindert ausdehnen konnten. Der Tejo war nicht mehr eine vage Fläche von bräunlicher Farbe, sondern ein Fluß, und das Castelo de São Jorge ragte in drei Richtungen in den Himmel hinein, wie eine richtige Burg. Doch so

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