Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
denen formvollendete Sätze gesprochen, nachdenklich erwogen, widerlegt und verteidigt werden? Wie kann das sein?
»Come on« , sagte der rothaarige Ire zu mir, als ich vor dem Plakat stand, das einen Vortrag mit dem Titel LYING TO LIARS ankündigte, »let’s listen to this; might be fun.« Ich dachte an Pater Bartolomeu, der Augustinus verteidigt hatte: Lüge mit Lüge zu vergelten wäre dasselbe, wie wenn einer Raub mit Raub, Sakrileg mit Sakrileg, Ehebruch mit Ehebruch vergälte. Und das angesichts von dem, was damals in Spanien geschah, und in Deutschland! Wir hatten uns gestritten, wie so oft, ohne daß er seine Sanftmut verloren hätte. Er verlor sie nie, diese Sanftmut, kein einziges Mal, und als ich mich im Vortragssaal neben den Iren setzte, vermißte ich ihn mit einemmal ganz schrecklich und hatte Heimweh.
Es war unglaublich. Die Vortragende, eine spitznasige, spitztantige spinster entwarf mit krächzender Stimme eine Kasuistik des Lügens, die spitzfindiger und wirklichkeitsferner nicht hätte sein können. Eine Frau, die nie im Lügengespinst einer Diktatur hatte leben müssen, wo es eine Frage von Leben oder Tod sein kann, daß man gut lügt. Kann Gott einen Stein schaffen, den er nicht zu heben vermag? Wenn nein, dann ist er nicht allmächtig; wenn ja, dann ist er es auch nicht, denn nun gibt es den Stein, den er nicht heben kann. Das war die Art von Scholastik, die sich aus der Frau in den Raum hinein ergoß, einer Frau, die aus Pergament war, mit einem kunstvollen Vogelnest aus grauem Haar auf dem Kopf.
Doch das war nicht das eigentlich Unglaubliche. Das wahrhaft Unfaßbare war die Diskussion, wie sie genannt wurde. Eingegossen und eingeschlossen in den grauen Bleirahmen der britischen Höflichkeitsfloskeln, redeten die Leute perfekt aneinander vorbei. Pausenlos sagten sie, daß sie einander verstünden, einander antworteten. Doch es war nicht so. Niemand, kein einziger der Diskutanten, zeigte das geringste Anzeichen eines Sinneswandels angesichts der vorgebrachten Gründe. Und plötzlich, mit einem Erschrecken, das ich sogar im Leib spürte, wurde mir klar: So ist es immer . Einem anderen etwas sagen: Wie kann man erwarten, daß es etwas bewirkt? Der Strom der Gedanken, Bilder und Gefühle, der jederzeit durch uns hindurchfließt, er hat eine solche Wucht, dieser reißende Strom, daß es ein Wunder wäre, wenn er nicht alle Worte, die jemand anderes zu uns sagt, einfach wegschwemmte und dem Vergessen übereignete, wenn sie nicht zufällig, ganz und gar zufällig, zu den eigenen Worten passen. Geht es mir anders?, dachte ich. Habe ich je einem anderen wirklich zugehört ? Ihn mit seinen Worten in mich hineingelassen, so daß mein innerer Strom umgeleitet worden wäre?
»How did you like it?« fragte der Ire, als wir die Broad Street entlanggingen. Ich sagte nicht alles, ich sagte nur, daß ich es gespenstisch gefunden hätte, wie alle eigentlich nur zu sich selbst geredet hätten. »Well« , sagte er, »well.« Und nach einer Weile: »It’s just talking, you know; just talking. People like to talk. Basically, that’s it. Talking.«»No meeting of minds?« fragte ich. »What!« rief er aus und verfiel in ein kehliges Lachen, das ins Grölen hinüberspielte. »What!« Und dann knallte er den Fußball, den er die ganze Zeit bei sich getragen hatte, auf den Asphalt. Ich wäre gern der Ire gewesen, ein Ire, der sich traute, im All SoulsCollege mit einem knallroten Fußball zum Abendvortrag zu erscheinen. Was hätte ich darum gegeben, der Ire zu sein!
Ich glaube, jetzt weiß ich, warum die nächtliche Stille an diesem illustren Ort eine schlechte Stille ist. Die Worte, allesamt dem Vergessen vorbestimmt, sind verklungen. Das würde nichts machen, sie verklingen auch in der Baixa. Dort jedoch gibt niemand vor, daß es um mehr geht als Reden, die Leute reden und genießen das Reden, so wie sie es genießen, das Eis zu schlecken, damit sich die Zunge von den Worten erholen kann. Während hier alle ständig tun, als sei es anders. Als sei es unerhört wichtig , was sie sagten. Doch auch sie müssen schlafen in ihrer Wichtigkeit, und dann bleibt eine Stille übrig, die faulig riecht, weil überall Kadaver der Wichtigtuerei herumliegen und wortlos vor sich hin stinken.
»Er haßte sie, die Wichtigtuer, os presunçosos , die er auch os enchouriçados nannte, die Aufgeblasenen«, sagte Mélodie und tat den Brief zurück in den Umschlag. »Er haßte sie überall: in der Politik, im Ärztestand, unter
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