Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
hielt und nicht mehr wußte, wo sie herkam. Unten, beim Essen, mußte ihn der Kellner stets von neuem fragen, was er wünsche, und einmal bestellte er den Nachtisch vor der Suppe.
Am zweiten Tag rief er seine Nachbarin in Bern an und bat sie, den Briefkasten zu leeren, der Schlüssel sei unter dem Türvorleger. Ob sie ihm die Post nachschicken solle? Ja, sagte er, und dann rief er nochmals an und sagte nein. Beim Blättern im Notizbuch stieß er auf die Telefonnummer, die ihm die Portugiesin auf die Stirn geschrieben hatte. Português. Er nahm den Hörer ab und wählte. Als das Freizeichen kam, legte er auf.
Die Koiné, das Griechisch des Neuen Testaments, langweilte ihn, es war zu einfach, nur der Blick auf die andere, portugiesische Seite in Coutinhos Ausgabe hatte einen gewissen Reiz. Er rief verschiedene Buchhandlungen an und fragte nach Aischylos und Horaz, es könnten auch Herodot und Tacitus sein. Sie verstanden ihn schlecht, und als er schließlich Erfolg hatte, holte er die Bücher nicht ab, weil es regnete.
Im Branchenverzeichnis suchte er nach Sprachschulen, in denen er Portugiesisch lernen könnte. Er rief Mariana Eça an und wollte vom Besuch bei João erzählen, aber sie war in Eile und nicht bei der Sache. Silveira war in Biarritz. Die Zeit stand still und die Welt stand still, und das war so, weil sein Wille stillstand, wie er noch nie stillgestanden hatte.
Manchmal stand er mit leerem Blick am Fenster und ging in Gedanken durch, was die anderen – Coutinho, Adriana, João Eça, Mélodie – über Prado gesagt hatten. Ein bißchen war es, als tauchten die Umrisse einer Landschaft aus dem Nebel auf, noch verschleiert zwar, aber doch schon erkennbar, wie auf einer chinesischen Tuschzeichnung. Ein einziges Mal in diesen Tagen blätterte er in Prados Aufzeichnungen und blieb bei diesem Abschnitt hängen:
AS SOMBRAS DA ALMA. DIE SCHATTEN DER SEELE . Die Geschichten, die die anderen über einen erzählen, und die Geschichten, die man über sich selbst erzählt: welche kommen der Wahrheit näher? Ist es so klar, daß es die eigenen sind? Ist einer für sich selbst eine Autorität? Doch das ist nicht wirklich die Frage, die mich beschäftigt. Die eigentliche Frage ist: Gibt es bei solchen Geschichten überhaupt einen Unterschied zwischen wahr und falsch? Bei Geschichten über das Äußere schon. Aber wenn wir uns aufmachen, jemanden im Inneren zu verstehen? Ist das eine Reise, die irgendwann an ihr Ende kommt? Ist die Seele ein Ort von Tatsachen? Oder sind die vermeintlichen Tatsachen nur die trügerischen Schatten unserer Geschichten?
Am Donnerstag morgen ging Gregorius unter einem klaren, blauen Himmel zur Zeitung und bat Agostinha, die Praktikantin, nachzusehen, wo es Anfang der dreißiger Jahre ein Liceu gegeben hatte, in dem man die alten Sprachen lernen konnte und wo auch Patres unterrichteten. Sie suchte mit Feuereifer, und als sie es hatte, zeigte sie ihm den Ort auf dem Stadtplan. Sie fand auch die zuständige Geschäftsstelle der Kirche, rief an und erkundigte sich für Gregorius nach einem Pater Bartolomeu, der in jenem Liceu unterrichtet habe, es müsse so um 1935 gewesen sein. Das könne nur Pater Bartolomeu Lourenço de Gusmão gewesen sein, sagte man ihr. Er sei weit über neunzig und empfange nur noch selten Besuche, worum es denn gehe. Amadeu Inácio de Almeida Prado? Man werde den Pater fragen und zurückrufen. Der Anruf kam nach wenigen Minuten. Der Pater war bereit, mit jemandem zu sprechen, der sich nach so langer Zeit für Prado interessierte. Er erwarte den Besuch am späten Nachmittag.
Gregorius fuhr hinaus zum ehemaligen Liceu, wo der Schüler Prado sich mit Pater Bartolomeu über Augustins unnachgiebiges Verbot des Lügens gestritten hatte, ohne daß der Pater jemals seine Sanftmut verloren hätte. Es lag im Osten, bereits außerhalb der eigentlichen Stadt, und war umgeben von alten, hohen Bäumen. Fast hätte man das Gebäude mit seinen Mauern aus bleichem Gelb für ein ehemaliges Grand Hotel des neunzehnten Jahrhunderts halten können, nur die Balkone fehlten, und auch der schmale Turmaufsatz mit der Glocke paßte nicht. Der Bau war vollständig verfallen. Der Putz blätterte, die Fensterscheiben waren blind oder zerschlagen, am Dach fehlten Ziegel, die Dachrinne war verrostet und an der einen Ecke abgeknickt.
Gregorius setzte sich auf die Eingangsstufen, die schon bei Prados nostalgischen Besuchen vermoost gewesen waren. Das mußte Ende der sechziger Jahre gewesen
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