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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sein. Hier hatte er gesessen und sich gefragt, wie es gewesen wäre, wenn er dreißig Jahre zuvor an dieser Weggabelung eine ganz andere Richtung eingeschlagen hätte. Wenn er sich dem anrührenden, aber auch gebieterischen Wunsch seines Vaters widersetzt und den medizinischen Hörsaal nicht betreten hätte.
    Gregorius holte seine Aufzeichnungen hervor und blätterte. … den traumgleichen, pathetischen Wunsch, noch einmal an jenem Punkt meines Lebens zu stehen und eine ganz andere Richtung einschlagen zu können als diejenige, die aus mir den gemacht hat, der ich nun bin… Noch einmal auf dem warmen Moos zu sitzen und die Mütze zu halten – es ist der widersinnige Wunsch, in der Zeit hinter mich selbst zurückzureisen und mich – den vom Geschehenen Gezeichneten – doch auf diese Reise auch mitzunehmen.
    Dort drüben war der morschgewordene Zaun, der den Schulhof umgrenzte und über den der Klassenletzte nach der Abschlußprüfung seine Mütze in den Teich mit den Seerosen geschleudert hatte, vor nunmehr siebenundsechzig Jahren. Der Teich war längst ausgetrocknet, nur eine Senke, überzogen mit einem Teppich aus Efeu, war übriggeblieben.
    Das Gebäude hinter den Bäumen mußte die Mädchenschule gewesen sein, aus der Maria João herübergekommen war, das Mädchen mit den braunen Knien und dem Duft von Seife im hellen Kleid, das Mädchen, das die große, berührungslose Liebe in Amadeus Leben geworden war, die Frau, die in Mélodies Einschätzung die einzige war, die wußte, wer er wirklich gewesen war, eine Frau von solch ausschließlicher Bedeutung, daß Adriana sie gehaßt hatte, obgleich er ihr vielleicht nicht einmal einen Kuß gegeben hatte.
    Gregorius schloß die Augen. Er stand im Kirchenfeld, an der Häuserecke, von der aus er ungesehen einen Blick zurück auf das Gymnasium hatte werfen können, nachdem er mitten aus dem Unterricht davongelaufen war. Noch einmal spürte er das Gefühl, das ihn vor zehn Tagen mit unerwarteter Wucht überfallen und ihm gezeigt hatte, wie sehr er dieses Gebäude und alles, wofür es stand, liebte und wie sehr er es vermissen würde. Es war das gleiche Gefühl, und es war ein anderes, weil es nicht mehr dasselbe war. Es tat ihm weh zu spüren, daß es nicht mehr dasselbe war und dadurch eigentlich auch nicht mehr das gleiche. Er stand auf, ließ den Blick über das blätternde, ausgeblichene Gelb der Fassade gleiten, und nun tat es mit einemmal nicht mehr weh, der Schmerz wich einer schwebenden Empfindung der Neugierde, und er stieß die Tür auf, die nur angelehnt gewesen war und in den rostigen Angeln quietschte wie in einem Gruselfilm.
    Ein Geruch von Feuchtigkeit und Moder schlug ihm entgegen. Nach wenigen Schritten wäre er beinahe ausgerutscht, denn der unebene, ausgetretene Steinboden war von einem Film aus feuchtem Staub und verfaultem Moos überzogen. Langsam, mit der Hand am Geländer, ging er die ausladenden Stufen empor. Die Flügel der Schwingtür, die sich zum Hochparterre hin öffnete, waren von so vielen Spinnweben verklebt, daß es ein Geräusch dumpfen Reißens gab, als er sie aufstieß. Er fuhr zusammen, als aufgeschreckte Fledermäuse durch den Gang flatterten. Dann herrschte eine Stille, wie er sie noch nie erlebt hatte: In ihr schwiegen die Jahre.
    Die Tür zum Rektorat war leicht zu erkennen, sie war mit feinen Schnitzereien verziert. Auch diese Tür war verklebt und gab erst nach mehrmaligem Rucken nach. Er betrat einen Raum, in dem es nur das eine zu geben schien: einen riesigen schwarzen Schreibtisch auf geschwungenen und geschnitzten Füßen. Alles andere – die leeren, eingestaubten Bücherregale, der schmucklose Teetisch auf den nackten, angefaulten Dielen, die spartanischen Sessel – besaß neben ihm keine Wirklichkeit. Gregorius wischte die Sitzfläche des Stuhls ab und setzte sich hinter den Schreibtisch. Senhor Cortês hatte der damalige Rektor geheißen, der Mann mit dem gemessenen Schritt und der strengen Miene.
    Gregorius hatte Staub aufgewirbelt, die feinen Partikel tanzten im Kegel des Sonnenlichts. Die schweigende Zeit gab ihm das Gefühl, ein Eindringling zu sein, und für einen langen Augenblick vergaß er zu atmen. Dann siegte die Neugier, und er zog die Schubladen des Schreibtischs auf, eine nach der anderen. Ein Stück Schnur, verschimmelte Holzkringel von einem gespitzten Bleistift, eine gewellte Briefmarke aus dem Jahr 1969, Kellergeruch. Und dann, in der untersten Schublade, eine hebräische Bibel, dick und schwer, gebunden

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