Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
war.
»Als Kellnerin in einer Bar; beim Schuleschwänzen; als Tankstellenmädchen; und hier, das müssen Sie sich ansehen: mein Orchester.«
Es war ein Straßenorchester mit acht Mädchen, die alle Geige spielten und alle Ballonmützen trugen, den Schirm zur Seite gedreht.
»Erkennen Sie mich? Ich trage den Schirm nach links, alle anderen nach rechts, das hieß, ich war die Chefin. Wir machten Geld, richtig gutes Geld. Wir spielten auf Hochzeiten, Partys; wir waren ein Geheimtip.«
Abrupt wandte sie sich ab, ging zum Fenster und sah hinaus.
»Papá mochte es nicht, mein Getingel. Kurz vor seinem Tod dann – ich war mit den moças de balão , den Ballonmädchen, wie man uns nannte, unterwegs – sehe ich drüben am Bordstein plötzlich Papás Dienstwagen mit dem Chauffeur, der ihn jeden Morgen um zehn vor sechs abholte und ins Gericht fuhr, er war stets der erste im Justizpalast. Papá saß wie immer im Fond, und jetzt sah er zu uns herüber. Die Tränen schossen mir in die Augen, und ich machte beim Spielen Fehler über Fehler. Die Tür des Wagens ging auf, und Papá kletterte heraus, umständlich und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Mit seinem Stock hielt er die Autos an – selbst jetzt strahlte er die Autorität eines Richters aus –, kam herüber zu uns, stand eine Weile ganz hinten bei den Zuschauern, bahnte sich dann einen Weg zu dem offenen Geigenkasten für das Geld und warf, ohne mich anzublicken, eine Handvoll Münzen hinein. Die Tränen liefen mir übers Gesicht, und den Rest des Stücks mußten sie ohne mich zu Ende bringen. Drüben fuhr der Wagen an, und jetzt winkte Papá mit seiner gichtverkrümmten Hand, ich winkte zurück, setzte mich in einem Hauseingang auf die Stufen und weinte mir die Augen aus, ich weiß nicht, ob es mehr aus Freude war, daß er gekommen war, oder aus Trauer darüber, daß er erst jetzt gekommen war.«
Gregorius ließ den Blick über die Fotos schweifen. Sie war ein Mädchen gewesen, das bei allen auf dem Schoß saß und alle zum Lachen brachte, und wenn sie weinte, war es schnell vorbei wie ein kurzer Regenguß an einem sonnigen Tag. Sie schwänzte die Schule, kam trotzdem durch, weil sie mit ihrer betörenden Frechheit die Lehrer verzauberte. Es paßte dazu, daß sie nun erzählte, wie sie gleichsam über Nacht Französisch gelernt hatte und sich nach dem Namen einer französischen Schauspielerin Élodie nannte, woraus die anderen sofort Mélodie machten, ein Wort wie für sie erfunden, denn ihre Gegenwart war schön und flüchtig wie die einer Melodie, alle verliebten sich in sie, niemand konnte sie festhalten.
»Ich liebte Amadeu, oder sagen wir: ich hätte ihn gerne geliebt, denn das war schwer, wie liebt man ein Monument, und er war ein Monument, schon als ich noch klein war, blickten alle zu ihm auf, sogar Papá, vor allem aber Adriana, die ihn mir weggenommen hat mit ihrer Eifersucht. Er war lieb zu mir, wie man zu seiner kleinen Schwester lieb ist. Aber ich wäre gern auch ernst genommen worden von ihm, nicht nur gestreichelt wie eine Puppe. Ich mußte warten, bis ich fünfundzwanzig war und kurz vor der Hochzeit stand, erst dann bekam ich diesen Brief von ihm, einen Brief aus England.«
Sie öffnete einen Sekretär und nahm ein prall gefülltes Kuvert heraus. Die vergilbten Briefbogen waren bis an den Rand vollgeschrieben mit kalligraphisch hingesetzten Buchstaben in tiefschwarzer Tinte. Mélodie las eine Weile stumm, dann begann sie zu übersetzen, was Amadeu ihr aus Oxford geschrieben hatte, einige Monate nach dem Tod seiner Frau.
»LIEBE MÉLODIE , es war ein Fehler, diese Reise zu machen. Ich dachte, es würde mir helfen, wenn ich noch einmal die Dinge sähe, die ich mit Fátima zusammen gesehen habe. Aber es tut nur weh, und ich reise früher zurück als geplant. Ich vermisse Dich, und deshalb schicke ich Dir, was ich letzte Nacht aufgeschrieben habe. Vielleicht kann ich mich auf diese Weise mit meinen Gedanken in Deine Nähe bringen.
oxford: just talking. Warum kommt mir die nächtliche Stille zwischen den klösterlichen Gebäuden so matt vor, so flau und öde, so vollständig geistlos und ohne Charme? So ganz anders als in der Rua Augusta, die noch um drei oder vier in der Frühe, wenn keine Menschenseele mehr unterwegs ist, vor Leben sprüht? Wie kann das sein, wo der helle, unirdisch leuchtende Stein doch Gebäude mit geheiligten Namen umschließt, Zellen der Gelehrsamkeit, erlesene Bibliotheken, Räume voll von Stille aus staubigem Samt, in
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