Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
den Journalisten. Und er war unerbittlich in seinem Urteil. Ich mochte sein Urteil, weil es unbestechlich war, schonungslos, auch sich selbst gegenüber. Ich mochte es nicht, wenn es scharfrichterlich wurde, vernichtend. Dann ging ich ihm aus dem Weg, meinem monumentalen Bruder.«
Neben Mélodies Kopf hing ein Foto an der Wand, auf dem sie zusammen tanzten, sie und Amadeu. Seine Bewegung war nicht eigentlich steif, dachte Gregorius; und doch konnte man sehen, daß er sich darin fremd war. Als er später darüber nachdachte, fiel ihm das treffende Wort ein: Tanzen war etwas, das Amadeu nicht gemäß gewesen war.
»Der Ire mit dem roten Ball im geheiligten College«, sagte Mélodie in die Stille hinein, »sie hat mich damals sehr berührt, diese Stelle im Brief. Sie brachte, schien mir, eine Sehnsucht zum Ausdruck, von der er sonst nie sprach: auch einmal ein ballspielender Junge sein zu dürfen. Er las ja schon mit vier, und er las von da an alles, kreuz und quer, in der Grundschule langweilte er sich zu Tode, und im Liceu übersprang er zweimal eine Klasse. Mit zwanzig wußte er eigentlich schon alles und fragte sich manchmal, was noch kommen sollte. Und über alledem hat er das Ballspielen vergessen.«
Der Hund schlug an, und dann stürmten Kinder, die die Enkelkinder sein mußten, herein. Mélodie gab Gregorius die Hand. Sie wußte, daß er noch viel mehr hätte erfahren wollen, über cedros vermelhos etwa, und über den Tod des Richters. Ihr Blick bewies, daß sie es wußte. Er bewies auch, daß sie heute nicht bereit gewesen wäre, mehr zu sagen, selbst wenn die Kinder nicht gekommen wären.
Gregorius setzte sich auf eine Bank beim Castelo und dachte über den Brief nach, den Amadeu der kleinen Schwester aus Oxford geschickt hatte. Er mußte Pater Bartolomeu finden, den sanftmütigen Lehrer. Prado hatte ein Ohr gehabt für die verschiedenen Arten von Stille, ein Ohr, wie es nur die Schlaflosen hatten. Und er hatte von der Vortragenden des Abends gesagt, sie sei aus Pergament. Erst jetzt wurde Gregorius bewußt, daß er bei dieser Bemerkung zusammengezuckt und im Inneren von dem gottlosen Priester mit dem scharfrichterlichen Urteil abgerückt war, zum erstenmal. Mundus, der Papyrus. Pergament und Papyrus.
Gregorius ging den Hügel hinunter in Richtung Hotel. In einem Geschäft kaufte er ein Schachspiel. Für den Rest des Tages, bis spät in die Nacht hinein, versuchte er, gegen Aljechin zu gewinnen, indem er, anders als Bogoljubov, das Opfer der beiden Türme nicht annahm. Er vermißte Doxiades und setzte die alte Brille auf.
17
Es sind keine Texte , Gregorius. Was die Leute sagen, sind keine Texte . Sie reden einfach. Es war lange her, daß Doxiades das zu ihm gesagt hatte. Es sei oft so unzusammenhängend und widersprüchlich, was die Leute sagten, hatte er ihm geklagt, und sie vergäßen das Gesagte so schnell. Der Grieche fand es rührend. Wenn man, wie er, Taxifahrer gewesen sei, in Griechenland und noch dazu in Thessaloniki, dann wisse man – und man wisse es so sicher wie nur wenige Dinge –, daß man die Leute auf das, was sie sagten, nicht festlegen könne. Oft redeten sie nur, um zu reden. Und nicht nur im Taxi. Sie beim Wort nehmen zu wollen – das sei etwas, was nur einem Philologen einfallen könne, namentlich einem Altphilologen, der den ganzen Tag mit unverrückbaren Worten zu tun habe, mit Texten eben, und noch dazu mit solchen, zu denen es Tausende von Kommentaren gebe.
Wenn man die Leute nicht beim Wort nehmen könne: was man denn sonst mit ihren Worten machen solle?, hatte Gregorius gefragt. Der Grieche hatte laut gelacht. »Sie zum Anlaß nehmen, selbst zu reden! So daß es immer weiter geht, das Reden.« Und nun hatte der Ire in Prados Brief an die kleine Schwester etwas gesagt, das sehr ähnlich klang, und er hatte es nicht über Fahrgäste in griechischen Taxis gesagt, sondern über Professoren im All Souls College zu Oxford. Er hatte es zu einem Mann gesagt, den es vor den abgenutzten Worten so sehr ekelte, daß er sich wünschte, die portugiesische Sprache neu setzen zu können.
Draußen regnete es in Strömen, seit zwei Tagen schon. Es war, als schirmte ein magischer Vorhang Gregorius gegen die Außenwelt ab. Er war nicht in Bern, und er war in Bern; er war in Lissabon, und er war nicht in Lissabon. Er spielte den ganzen Tag Schach und vergaß Stellungen und Züge, etwas, das ihm zuvor noch nie passiert war. Manchmal ertappte er sich dabei, daß er eine Figur in der Hand
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