Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Gregorius erzählte, fuhr sie mit der Hand sanft über den grauen Einband, die Bewegung erinnerte ihn an die Studentin in der spanischen Buchhandlung in Bern. Sie schien nicht mehr zuzuhören, und er brach ab.
»Adriana«, sagte sie jetzt. »Adriana. Und kein einziges Wort. É próprio dela «, das ist typisch für sie. Am Anfang lag nur Erstaunen in den Worten, dann kam Bitterkeit dazu, und nun paßte der melodiöse Name nicht mehr zu ihr. Sie blickte in die Weite, an der Burg vorbei, über die Senke der Baixa hinweg zum Hügel des Bairro Alto. Als wolle sie die Schwester drüben im blauen Haus mit ihrem erzürnten Blick treffen.
Sie standen sich stumm gegenüber. Pan hechelte. Gregorius kam sich wie ein Eindringling vor, ein Voyeur.
»Kommen Sie, wir trinken einen Kaffee«, sagte sie, und es klang, als sei sie gerade eben leichtfüßig über ihren Groll hinweggehüpft. »Ich will mir das Buch ansehen. Pan, du hast Pech gehabt«, und mit diesen Worten zog sie ihn mit kräftigen Armen ins Haus.
Es war ein Haus, das Leben atmete, ein Haus mit Spielzeug auf der Treppe, mit einem Geruch nach Kaffee, Zigarettenrauch und Parfum, mit portugiesischen Zeitungen und französischen Magazinen auf den Tischen, mit offenen CD-Hüllen und einer Katze, die auf dem Frühstückstisch an der Butter leckte. Mélodie scheuchte die Katze weg und schenkte Kaffee ein. Das Blut, das ihr vorhin ins Gesicht geschossen war, war gewichen, nur ein paar rote Flecke zeugten noch von der Erregung. Sie griff nach der Brille auf der Zeitung und begann zu lesen, was der Bruder aufgeschrieben hatte, einmal hier, einmal da. Hin und wieder biß sie sich auf die Lippen. Einmal, ohne den Blick vom Buch zu lösen, streifte sie das Blouson ab und fischte blind eine Zigarette aus der Packung. Der Atem ging schwer.
»Das mit Maria João und dem Schulwechsel – das muß vor meiner Geburt gewesen sein, wir waren sechzehn Jahre auseinander. Aber Papá – er war so, wie es hier steht, genau so. Er war sechsundvierzig, als ich geboren wurde, ich war ein Versehen, gezeugt am Amazonas, auf einer der wenigen Reisen, zu denen ihn Mama verführen konnte, ich kann mir Papá am Amazonas überhaupt nicht vorstellen. Als ich vierzehn war, feierten wir schon seinen sechzigsten Geburtstag, es kommt mir vor, als hätte ich ihn überhaupt nur als alten Mann gekannt, als alten, gebückten, strengen Mann.«
Mélodie hielt inne, zündete eine neue Zigarette an und sah vor sich hin. Gregorius hoffte, sie würde auf den Tod des Richters zu sprechen kommen. Doch jetzt hellte sich ihr Gesicht auf, ihre Gedanken bewegten sich in eine andere Richtung.
»Maria João. Er kannte sie also schon als Knirps. Wußte ich gar nicht. Eine Orange. Er liebte sie offenbar schon damals. Hat nie aufgehört damit. Die große, berührungslose Liebe seines Lebens. Es würde mich nicht wundern, wenn er ihr nicht einmal einen Kuß gegeben hätte. Aber niemand, keine Frau, reichte an sie heran. Sie heiratete, hatte Kinder. Spielte alles keine Rolle. Wenn er Sorgen hatte, wirkliche Sorgen, ging er zu ihr. In gewissem Sinn wußte nur sie, sie allein, wer er war. Er wußte, wie man durch geteilte Geheimnisse Intimität schafft, er war ein Meister in dieser Kunst, ein Virtuose. Und wir wußten: Wenn jemand all seine Geheimnisse kannte, war es Maria João. Fátima litt darunter, und Adriana haßte sie.«
Ob sie noch lebe, fragte Gregorius. Zuletzt habe sie draußen im Campo de Ourique gelebt, in der Nähe des Friedhofs, sagte Mélodie, aber es sei viele Jahre her, daß sie sie dort an seinem Grab getroffen habe, es sei eine freundliche und trotzdem kühle Begegnung gewesen.
»Sie, das Bauernkind, hielt immer Distanz zu uns, den Adligen. Daß auch Amadeu zu uns gehörte – sie tat, als wisse sie das nicht. Oder als sei es etwas Zufälliges, Äußerliches, das mit ihm nichts zu tun hatte.«
Wie sie mit Nachnamen heiße? Mélodie wußte es nicht. »Sie war einfach Maria João für uns.«
Sie gingen aus dem Turmzimmer hinüber in den flacheren Teil des Hauses, wo ein Webstuhl stand.
»Ich habe tausend Dinge getan«, lachte sie, als sie Gregorius’ neugierige Blicke sah, »ich war immer die Unstete, die Unberechenbare, deshalb konnte Papá mit mir nichts anfangen.«
Einen Augenblick lang verdunkelte sich die helle Stimme, wie wenn eine flüchtige Wolke sich vor die Sonne schiebt, dann war es vorbei, und sie deutete auf die Fotos an der Wand, auf der sie in unterschiedlichsten Umgebungen zu sehen
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