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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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herauszufordern, auch den Teufel, sogar Gott. Nein, es war nicht Größenwahn, wie seine Gegner sagten, es war nur aufblühendes Leben und ein vulkanartiger, tosender Ausbruch von erwachenden Kräften, ein Funkenregen von sprühenden Einfällen. Ohne Zweifel war er voller Hochmut, dieser Junge. Doch er war so unbändig, so über alle Maßen groß, dieser Hochmut, daß man alle Gegenwehr vergaß und staunend darauf blickte wie auf ein Naturwunder, das seine eigenen Gesetze hatte. Diejenigen, die ihn liebten, sahen ihn wie einen rohen Diamanten, einen ungeschliffenen Edelstein. Diejenigen, die ihn ablehnten, nahmen Anstoß an seiner Respektlosigkeit, die auch verletzen konnte, und an seiner stummen aber unübersehbaren Selbstgerechtigkeit, wie sie denjenigen zu eigen ist, die schneller, klarer und leuchtender sind als die anderen und es wissen. Sie sahen in ihm einen adligen Schnösel, vom Schicksal begünstigt, überschüttet nicht nur mit Geld, sondern auch mit Talenten, mit Schönheit und Charme, dazu seine unwiderstehliche Melancholie, die ihn dazu bestimmte, ein Liebling der Frauen zu werden. Es war ungerecht, daß einer es so viel besser getroffen hatte als die anderen, es war unfair und machte ihn zum Magneten für Neid und Mißgunst. Und doch waren auch diejenigen, die so empfanden, insgeheim voller Bewunderung, denn niemand konnte die Augen davor verschließen: Er war ein Junge, befähigt, den Himmel zu berühren.«
    Die Erinnerung hatte den Pater weit hinausgetragen aus dem Zimmer, in dem sie saßen, einem Zimmer, das zwar geräumig war und voller Bücher, kein Vergleich mit Joâo Eças ärmlichem Zimmer drüben in Cacilhas, aber trotzdem ein Zimmer in einem Pflegeheim, erkennbar an medizinischen Geräten und der Klingel über dem Bett. Gregorius hatte ihn von Anfang an gemocht, den hoch aufgeschossenen, hageren Mann mit dem schneeweißen Haar und den tiefliegenden, klugen Augen. Er mußte, wenn er Prado unterrichtet hatte, inzwischen weit über neunzig sein, doch es war nichts Greisenhaftes an ihm, kein Anzeichen dafür, daß er etwas von der Wachheit eingebüßt hätte, mit der er vor siebzig Jahren den ungestümen Herausforderungen Amadeus begegnet war. Er hatte schlanke Hände mit langen, feingliedrigen Fingern, wie geschaffen, um die Seiten von alten, kostbaren Büchern zu wenden. Mit diesen Fingern blätterte er jetzt in Prados Buch. Doch er las nicht, das Berühren des Papiers war eher wie ein Ritual, um die ferne Vergangenheit zurückzuholen.
    »Was er schon alles gelesen hatte, als er mit zehn Jahren in seinem kleinen, maßgeschneiderten Gehrock über die Schwelle des Liceu trat! Mancher von uns ertappte sich dabei, wie er heimlich prüfte, ob er mithalten konnte. Und dann saß er nach dem Unterricht mit seinem phänomenalen Gedächtnis in der Bibliothek, und seine dunklen Augen sogen mit ihrem unerhört konzentrierten, weltverlorenen Blick, den auch der lauteste Knall in seiner Stetigkeit nicht hätte erschüttern können, all die dicken Bücher ein, Zeile für Zeile, Seite für Seite. ›Wenn Amadeu ein Buch liest‹, sagte ein anderer Lehrer, ›dann hat es nachher keine Buchstaben mehr. Er verschlingt nicht nur den Sinn, sondern auch die Druckerschwärze.‹
    So war es: Die Texte schienen ganz und gar in ihm zu verschwinden, und was nachher im Regal stand, waren nur noch leere Hülsen. Die Landschaft seines Geistes hinter der unverschämt hohen Stirn weitete sich mit atemberaubendem Tempo, von Woche zu Woche bildeten sich darin neue Formationen heraus, überraschende Formationen aus Ideen, Assoziationen und phantastischen sprachlichen Einfällen, die uns stets von neuem in Erstaunen versetzten. Es kam vor, daß er sich in der Bibliothek versteckte und die ganze Nacht über mit einer Taschenlampe weiterlas. Beim ersten Mal geriet seine Mutter in helle Panik, als er nicht nach Hause kam. Doch mehr und mehr gewöhnte sie sich mit einem gewissen Stolz daran, daß ihr Junge dazu neigte, alle Regeln außer Kraft zu setzen.
    Manch ein Lehrer fürchtete sich, wenn Amadeus konzentrierter Blick auf ihn fiel. Nicht, daß es ein ablehnender, herausfordernder oder gar kriegerischer Blick gewesen wäre. Aber er gab dem Erklärenden nur eine, genau eine Chance, es richtig zu machen. Machte man einen Fehler oder ließ Unsicherheit erkennen, wurde sein Blick nicht lauernd oder verächtlich, nicht einmal Enttäuschung war darin zu lesen, nein, er wandte den Blick einfach ab, wollte es einen nicht spüren lassen,

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