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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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    Gregorius setzte sich auf den Platz, auf dem er als Schüler des Berner Gymnasiums in der Baracke gesessen hatte. Von hier aus konnte man zur Mädchenschule hinübersehen, aber die Hälfte des Gebäudes war vom Stamm einer riesigen Pinie verdeckt. Amadeu de Prado würde sich einen anderen Platz ausgesucht haben, einen, von dem aus er die gesamte Fensterfront überblicken konnte. Damit er Maria João an ihrem Pult sehen konnte, ganz gleich, wo sie zu sitzen kam. Gregorius setzte sich auf den Platz mit der besten Sicht und sah angestrengt hinüber. Doch, er hatte sie sehen können in ihrem hellen Kleid, das nach Seife duftete. Sie hatten Blicke getauscht, und wenn sie eine Klausur schrieb, hatte er sich gewünscht, er könnte ihr die Hand führen. Hatte er ein Opernglas benutzt? Im adligen Hause eines Richters am Obersten Gerichtshof mußte es eines gegeben haben. Alexandre Horácio würde es nicht benutzt haben, wenn er überhaupt je in einer Loge der Oper gesessen hatte. Aber vielleicht seine Frau, Maria Piedade Reis de Prado? In den sechs Jahren, die sie nach seinem Tod noch lebte? War sein Tod eine Befreiung für sie gewesen? Oder hatte er die Zeit stillstehen lassen und die Gefühle zu Formationen erstarrter seelischer Lava gemacht, wie bei Adriana?
    Die Zimmer lagen an langen Gängen, die an eine Kaserne erinnerten. Gregorius schritt sie einen nach dem anderen ab. Einmal stolperte er über eine tote Ratte, blieb danach zitternd stehen und wischte sich die Hände, die damit gar nichts zu tun hatten, am Mantel ab. Wieder im Parterre angekommen, öffnete er eine hohe, schmucklose Tür. Hier hatten die Schüler gegessen, es gab eine Durchreiche und dahinter den gekachelten Raum der ehemaligen Küche, von der nur noch verrostete Rohre übrig waren, die aus der Wand ragten. Die langen Eßtische hatte man stehen lassen. Gab es eine Aula?
    Er fand sie auf der anderen Seite des Gebäudes. Festgeschraubte Sitzbänke, ein farbiges Fenster, dem zwei Splitter fehlten, vorne ein erhöhtes Pult mit Lämpchen. Eine gesonderte Bank, wahrscheinlich für die Schulleitung. Die Stille einer Kirche, oder nein, einfach die Stille, in der es auf etwas ankam, eine Stille, die man nicht mit beliebigen Worten beenden würde. Eine Stille, die aus Worten Skulpturen machte, Monumente des Lobs, der Ermahnung oder des vernichtenden Urteils.
    Gregorius ging zurück ins Zimmer des Rektors. Unschlüssig hielt er die hebräische Bibel in der Hand. Er hatte sie schon unter dem Arm und war auf dem Weg zum Ausgang, da drehte er um. Er kleidete die feuchte Schublade, in der sie gelegen hatte, mit seinem Pullover aus und legte das Buch hinein. Dann machte er sich auf den Weg zu Pater Bartolomeu Lourenço de Gusmão, der am anderen Ende der Stadt, in Belém, in einem kirchlichen Heim wohnte.

18
     
    »Augustinus und die Lüge – das war nur eine von tausend Sachen, über die wir gestritten haben«, sagte Pater Bartolomeu. »Wir haben viel gestritten, ohne daß es je ein Streit gewesen wäre. Denn sehen Sie, er war ein Heißsporn, ein Rebell, dazu ein Junge von quecksilbriger Intelligenz und ein begnadeter Redner, der sechs Jahre lang durch das Liceu fegte wie ein Wirbelsturm, dafür geschaffen, eine Legende zu werden.«
    Der Pater hatte Prados Buch in der Hand und fuhr jetzt mit dem Handrücken über das Portrait. Es konnte ein Glattstreichen sein, und es konnte ein Streicheln sein. Gregorius sah Adriana vor sich, wie sie mit dem Handrücken über Amadeus Schreibtisch gestrichen hatte.
    »Er ist hier älter«, sagte der Pater, »aber er ist es. So war er, genau so.«
    Er legte das Buch auf die Decke, in die er die Beine eingewickelt hatte.
    »Damals, als sein Lehrer, war ich Mitte zwanzig, es war eine unglaubliche Herausforderung für mich, ihm standhalten zu müssen. Er spaltete die Lehrerschaft in diejenigen, die ihn zum Teufel wünschten, und diejenigen, die ihn liebten. Ja, das ist das richtige Wort: Einige von uns waren in ihn verliebt – in seine Maßlosigkeit, seine überbordende Großherzigkeit und zähe Verbissenheit, in seine weltverachtende Kühnheit, seine Furchtlosigkeit und seinen fanatischen Eifer. Er war voller Verwegenheit, ein Abenteurer, den man sich gut auf einem unserer historischen Schiffe vorstellen konnte, singend, predigend und fest entschlossen, die Einwohner der fernen Kontinente gegen jeden entwürdigenden Übergriff der Besatzung zu schützen, notfalls mit dem Schwert. Er war bereit, jeden

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