Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Bewegung. Eines Tages war es kein Gummiband mehr, sondern eine silberne Spange, und an seinem Gesicht konnte man erkennen, daß sie ein Geschenk von ihm war.«
Wie Mélodie kannte auch der Pater den Nachnamen des Mädchens nicht.
»Jetzt, wo Sie mich danach fragen, kommt es mir vor, als wollten wir den Namen nicht wissen; als wäre es störend gewesen, ihn zu kennen«, sagte er. »Ein bißchen so, wie man ja auch bei Heiligen nicht nach dem Familiennamen fragt. Oder bei Diana, oder Elektra.«
Eine Schwester in Nonnentracht kam herein.
»Jetzt nicht«, sagte der Pater, als sie nach der Manschette für das Messen des Blutdrucks griff.
Er sagte es mit sanfter Autorität, und plötzlich begriff Gregorius, warum dieser Mann für den jungen Prado ein Glücksfall gewesen war: Er besaß genau die Art von Autorität, die er gebraucht hatte, um sich seiner Grenzen zu vergewissern, und vielleicht auch, um sich aus der strengen, herben Autorität des richtenden Vaters zu befreien.
»Aber wir hätten gerne einen Tee«, sagte der Pater und wischte mit seinem Lächeln den aufkeimenden Ärger der Schwester beiseite. »Einen Assam, und machen Sie ihn stark, damit das rote Gold richtig leuchtet.«
Der Pater schloß die Augen und schwieg. Er wollte die ferne Zeit, in der Amadeu de Prado Maria João eine Haarspange geschenkt hatte, nicht verlassen. Überhaupt, dachte Gregorius, wollte er bei seinem Lieblingsschüler bleiben, mit dem er über Augustinus und tausend andere Dinge debattiert hatte. Bei dem Jungen, der den Himmel hatte berühren können. Dem Jungen, dem er auch gerne die Hand auf die Schulter gelegt hätte wie Maria João.
»Maria und Jorge«, fuhr der Pater jetzt mit geschlossenen Augen fort, »sie waren wie seine Schutzheiligen. Jorge O’Kelly. In ihm, dem späteren Apotheker, fand Amadeu einen Freund, und es würde mich nicht wundern, wenn er der einzige wirkliche Freund geblieben wäre, von Maria einmal abgesehen. Er war in vielem sein genaues Gegenteil, und manchmal habe ich gedacht: Er brauchte ihn, um ganz zu sein. Mit seinem Bauernschädel, dem struppigen, ewig ungekämmten Haar und seiner schwerfälligen, umständlichen Art konnte er beschränkt wirken, und an Tagen der offenen Tür habe ich es erlebt, daß noble Eltern anderer Schüler sich erstaunt umdrehten, wenn er in seiner ärmlichen Kleidung an ihnen vorbeigegangen war. Er war so überhaupt nicht elegant in seinen zerknitterten Hemden, der unförmigen Jacke und der immer gleichen schwarzen Krawatte, die er aus Protest gegen den Zwang stets verrutscht trug.
Einmal, da kamen uns Amadeu und Jorge auf dem Schulkorridor entgegen, mir und meinem Kollegen, und da sagte der Kollege nachher: ›Wenn ich in einem Lexikon den Begriff der Eleganz und sein striktes Gegenteil erläutern müßte, so würde ich einfach diese beiden Jungs abbilden. Jeder weitere Kommentar würde sich erübrigen.‹
Jorge war einer, bei dem sich Amadeu ausruhen und von seinem rasenden Tempo erholen konnte. Wenn er mit ihm zusammen war, wurde er nach einer Weile ebenfalls langsam, Jorges Bedächtigkeit ging auf ihn über. Etwa beim Schach. Anfänglich machte es ihn verrückt, wenn Jorge ewig über einem Zug brütete, und es paßte nicht in sein Weltbild, in seine quecksilberne Metaphysik, daß einer, der für seine Gedanken so lange brauchte, am Ende gewinnen konnte. Doch dann begann er seine Ruhe einzuatmen, die Ruhe von einem, der schon immer zu wissen schien, wer er war und wohin er gehörte. Es klingt verrückt, aber ich glaube, es kam soweit, daß Amadeu die regelmäßigen Niederlagen gegen Jorge brauchte . Er war unglücklich, wenn er ausnahmsweise gewann, es muß für ihn gewesen sein, als bräche die Felswand weg, an der er sich sonst festhalten konnte.
Jorge wußte genau, wann seine irischen Vorfahren nach Portugal gekommen waren, er war stolz auf das irische Blut und konnte gut Englisch, auch wenn sein Mund für die englischen Wörter überhaupt nicht geschaffen war. Und tatsächlich hätte man sich überhaupt nicht gewundert, ihn auf einem irischen Bauernhof oder in einem ländlichen Pub anzutreffen, und wenn man sich das vorstellte, dann sah er plötzlich aus wie der junge Samuel Beckett.
Er war schon damals ein beinharter Atheist, ich weiß nicht, woher wir das wußten, aber wir wußten es. Darauf angesprochen, zitierte er ungerührt den Wappenspruch der Familie: Turris fortis mihi Deus . Er las die russischen, andalusischen und katalanischen Anarchisten und spielte
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