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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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war beim Hinausgehen höflich, freundlich. Aber gerade dieser spürbare Wille, nicht zu verletzen, war vernichtend. Ich habe es selbst erlebt, und andere haben es bestätigt: Man hatte ihn auch bei der Vorbereitung vor sich, diesen prüfenden Blick. Es gab diejenigen, für die er der Blick des Examinators war, der einen zurück auf die Schulbank beförderte, und die anderen, denen es gelang, ihm im Geiste eines Sportlers zu begegnen, der auf einen starken Gegner trifft. Ich habe keinen gekannt, der das nicht erlebt hätte: daß Amadeu Inácio de Almeida Prado, der frühreife, überwache Sohn des berühmten Richters, in der Studierstube anwesend war, wenn man etwas Schwieriges vorbereitete, etwas, bei dem man auch als Lehrer Fehler machen konnte.
    Trotzdem: Er war nicht nur fordernd. Überhaupt war er nicht aus einem Guß. Es gab Brüche in ihm, Risse und Sprünge, und manchmal hatte man das Gefühl, sich bei ihm überhaupt nicht auszukennen. Wenn er merkte, was er in seiner überbordenden, aber eben auch hochfahrenen Art angerichtet hatte, fiel er aus allen Wolken, war entgeistert und versuchte alles, um es wiedergutzumachen. Und es gab auch den anderen Amadeu, den guten, hilfsbereiten Kameraden. Er konnte nächtelang bei anderen sitzen, um sie auf eine Klausur vorzubereiten, und dabei legte er eine Bescheidenheit und eine Engelsgeduld an den Tag, die alle beschämten, die über ihn gelästert hatten.
    Auch die Anfälle von Schwermut gehörten zu einem anderen Amadeu. Wenn sie ihn heimsuchten, war es fast, als hätte sich vorübergehend ein ganz anderes Gemüt in ihm eingenistet. Es befiel ihn eine übergroße Schreckhaftigkeit, beim geringsten Lärm zuckte er zusammen wie unter einem Peitschenhieb. In solchen Momenten wirkte er wie die verkörperte Schwierigkeit, am Leben zu sein. Und wehe, wenn man eine tröstende oder aufmunternde Bemerkung versuchte: Dann sprang er einen mit einem wütenden Zischen an.
    Er konnte so vieles, dieser reich gesegnete Junge. Nur das eine konnte er nicht: feiern, ausgelassen sein, sich gehenlassen. Da stand er sich mit seiner übergroßen Wachheit und seinem leidenschaftlichen Bedürfnis nach Übersicht und Kontrolle im Wege. Kein Alkohol. Auch keine Zigaretten, die kamen erst später. Aber Unmengen von Tee, er liebte das rotgoldene Leuchten eines schweren Assam und hatte dafür von zu Hause eine silberne Kanne mitgebracht, die er am Ende dem Koch schenkte.«
    Es müsse dieses Mädchen gegeben haben, Maria João, warf Gregorius ein.
    »Ja. Und Amadeu liebte sie. Er liebte sie auf diese unnachahmlich keusche Weise, über die alle lächelten, ohne ihren Neid verbergen zu können, es war Neid angesichts einer Empfindung, die es eigentlich nur im Märchen gibt. Er liebte sie und verehrte sie. Ja, das war es: Er verehrte sie – auch wenn man das von Kindern sonst nicht sagt. Aber bei Amadeu war so vieles anders. Dabei war sie kein besonders hübsches Mädchen, keine Prinzessin, weit davon entfernt. Und eine gute Schülerin war sie auch nicht, soweit ich weiß. Niemand verstand es ganz, am wenigsten die anderen Mädchen aus der Schule drüben, die alles gegeben hätten, um die Augen des adligen Prinzen auf sich zu ziehen. Vielleicht war es einfach, daß sie nicht geblendet war von ihm, nicht überwältigt wie alle anderen. Vielleicht war es das, was er brauchte: daß jemand ihm mit selbstverständlicher Ebenbürtigkeit begegnete, mit Worten, Blicken und Bewegungen, die ihn durch ihre Natürlichkeit und Unauffälligkeit von sich selbst erlösten.
    Wenn Maria João herüberkam und sich neben ihn auf die Stufen setzte: Er schien mit einemmal ganz ruhig zu werden, befreit von der Bürde seiner Wachheit und Schnelligkeit, der Last seiner unausgesetzten Geistesgegenwart, der Qual, sich innerlich stets selber überholen und übertrumpfen zu müssen. Neben ihr sitzend konnte er das Bimmeln der Glocke überhören, die zum Unterricht rief, und man hatte beim Zusehen den Eindruck, er wäre lieber nie mehr aufgestanden. Dann legte ihm Maria die Hand auf die Schulter und holte ihn zurück aus dem Paradies seiner kostbaren Unangestrengtheit. Es war immer sie, die ihn berührte; nie habe ich gesehen, daß seine Hand auf ihr geruht hätte. Wenn sie sich anschickte, zurück zu ihrer Schule zu gehen, pflegte sie ihr schwarzglänzendes Haar mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zu binden. Jedesmal sah er ihr dabei wie gebannt zu, auch beim hundertsten Mal noch, er muß sie sehr geliebt haben, diese

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