Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
in graues Leinen, verschossen, abgegriffen und mit Blasen von der Feuchtigkeit, auf dem Deckel BIBLIA HEBRAICA in goldenen Lettern, die schwarze Schatten bekommen hatten.
Gregorius stutzte. Das Liceu war, wie Agostinha herausgefunden hatte, keine kirchliche Schule gewesen. Der Marquês de Pombal hatte die Jesuiten Mitte des 18. Jahrhunderts aus Portugal vertrieben, und etwas Ähnliches war Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal geschehen. Ende der vierziger Jahre hatten Orden wie die Maristas eigene Colégios gegründet, aber das war nach der Zeit von Prados Schulbesuch gewesen. Bis dahin hatte es nur öffentliche Liceus gegeben, die gelegentlich Patres als Lehrer für die alten Sprachen beschäftigten. Warum also diese Bibel? Und warum im Schreibtisch des Rektors? Ein einfaches Versehen, ein bedeutungsloser Zufall? Ein unsichtbarer, verschwiegener Protest gegen diejenigen, die die Schule geschlossen hatten? Ein subversives Vergessen, gerichtet gegen die Diktatur und unbemerkt geblieben von ihren Handlangern?
Gregorius las. Vorsichtig wendete er die gewellten Seiten aus dickem Papier, das sich klamm und morsch anfühlte. Der Kegel des Sonnenlichts wanderte. Er knöpfte den Mantel zu, stellte den Kragen hoch und schob die Hände in die Ärmel. Nach einer Weile steckte er sich eine der Zigaretten zwischen die Lippen, die er am Montag gekauft hatte. Ab und zu mußte er husten. Draußen, vor der angelehnten Tür, huschte etwas vorbei, das eine Ratte sein mußte.
Er las im Buch Hiob, und er las mit klopfendem Herzen. Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Isfahan. Wie war der Name der Familie gewesen, in der er dort hätte unterrichten sollen? In der Buchhandlung Francke hatte es in jenen Tagen einen Bildband von Isfahan gegeben, von den Moscheen, den Plätzen, den sandsturmverschleierten Bergen in der Umgebung. Er hatte ihn nicht kaufen können und war deshalb jeden Tag zu Francke gegangen, um darin zu blättern. Nachdem ihn der Traum vom glühenden Sand, der Blindheit über ihn bringen würde, gezwungen hatte, seine Bewerbung zurückzuziehen, war er monatelang nicht mehr zu Francke gegangen. Als er schließlich wieder hinging, war der Bildband nicht mehr da.
Die hebräischen Buchstaben waren Gregorius vor den Augen verschwommen. Er fuhr sich übers nasse Gesicht, putzte die Brille und las weiter. Etwas war von Isfahan, der Stadt der Blendung, in seinem Leben zurückgeblieben: Er hatte die Bibel von Beginn an als ein poetisches Buch gelesen, als Dichtung, als Sprachmusik, die umspielt wurde vom Ultramarin und Gold der Moscheen. Ich habe das Gefühl, daß Sie den Text nicht ernst nehmen , hatte Ruth Gautschi gesagt, und David Lehmann hatte genickt. War das wirklich erst letzten Monat gewesen?
Kann es einen Ernst geben, der ernster ist als der poetische Ernst? , hatte er die beiden gefragt. Ruth hatte zu Boden gesehen. Sie mochte ihn. Nicht so wie Florence damals, in der ersten Reihe; sie würde ihm nie die Brille abnehmen wollen. Aber sie mochte ihn, und nun war sie gespalten zwischen dieser Zuneigung und der Enttäuschung, vielleicht sogar dem Entsetzen darüber, daß er Gottes Wort entweihte, indem er es las wie ein langes Gedicht und hörte wie eine Folge orientalischer Sonaten.
Die Sonne war aus dem Zimmer von Senhor Cortês verschwunden, und Gregorius fror. Die Verlassenheit des Raums hatte für Stunden alles zu Vergangenheit werden lassen, er hatte inmitten einer vollständigen Weltlosigkeit gesessen, in die als einziges die hebräischen Buchstaben hineingeragt hatten als Runen verzagten Träumens. Jetzt stand er auf und ging steif auf den Korridor hinaus und die Treppe hinauf zu den Klassenzimmern.
Die Zimmer waren voll von Staub und Stille. Wenn sie sich unterschieden, dann in den Zeichen des Verfalls. Im einen gab es riesige Wasserflecke an der Decke, in einem anderen hing das Waschbecken schief, weil eine durchgerostete Schraube gebrochen war, in einem dritten lag ein zersplitterter Lampenschirm aus Glas am Boden, die nackte Glühbirne hing an einem Draht von der Decke. Gregorius betätigte den Lichtschalter: nichts, weder hier noch in den anderen Räumen. Irgendwo lag in einer Ecke ein Fußball ohne Luft, die spitzen Reste der eingeworfenen Fensterscheibe blitzten in der Mittagssonne. Und über alledem hat er das Ballspielen vergessen , hatte Mélodie über ihren Bruder gesagt, den sie in diesem Gebäude zwei Klassen überspringen ließen, weil er schon mit vier begonnen hatte, sich
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