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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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mit dem Gedanken, über die Grenze zu gehen und gegen Franco zu kämpfen. Daß er später in den Widerstand ging: Alles andere hätte mich gewundert. Er war zeitlebens ein illusionsloser Romantiker, wenn es so etwas gibt, und es muß es geben. Und dieser Romantiker hatte zwei Träume: Apotheker werden und auf einem Steinway spielen. Den ersten Traum hat er wahr gemacht, noch heute steht er im weißen Kittel hinter dem Ladentisch an der Rua dos Sapateiros. Über den zweiten Traum haben alle gelacht, er selbst am meisten. Denn seine groben Hände mit den breiten Fingerkuppen und den geriffelten Nägeln, sie paßten besser zu dem schuleigenen Kontrabaß, an dem er sich eine Weile versuchte, bis er in einem Anfall von Verzweiflung über die mangelnde Begabung so heftig über die Saiten sägte, daß der Bogen brach.«
    Der Pater trank seinen Tee, und Gregorius nahm enttäuscht wahr, daß das Trinken immer mehr zu einem Schlürfen wurde. Plötzlich war er nun doch ein alter Mann, dem die Lippen nicht mehr ganz gehorchten. Auch seine Stimmung hatte sich verändert, es lagen Trauer und Wehmut in der Stimme, als er nun von der Leere sprach, die Prado am Ende seiner Schulzeit hinterlassen hatte.
    »Natürlich wußten wir alle, daß er im Herbst, wenn die Hitze nachlassen und sich ein goldener Schatten auf das Licht legen würde, in den Gängen nicht mehr anzutreffen wäre. Doch keiner sprach darüber. Zum Abschied gab er uns allen die Hand, vergaß keinen, dankte mit warmen, vornehmen Worten, ich weiß noch, daß ich einen Moment lang dachte: wie ein Präsident.«
    Der Pater zögerte, und dann sagte er es doch.
    »Sie hätten etwas weniger wohlgeformt sein dürfen, diese Worte. Etwas stockender, unbeholfener, tastender. Etwas mehr wie unbehauener Stein. Ein bißchen weniger wie polierter Marmor.«
    Und er hätte sich von ihm, von Pater Bartolomeu, anders verabschieden sollen als von den anderen, dachte Gregorius. Mit anderen, persönlicheren Worten, vielleicht mit einer Umarmung. Es hatte dem Pater weh getan, daß er ihn wie einen unter anderen behandelt hatte. Es tat ihm auch jetzt, siebzig Jahre danach, noch weh.
    »In den ersten Tagen nach Beginn des neuen Schuljahrs ging ich wie betäubt durch die Gänge. Betäubt von seiner Abwesenheit. Immer wieder mußte ich mir sagen: Du kannst nicht mehr erwarten, den Helm seines Haars auftauchen zu sehen, du darfst nicht mehr hoffen, daß seine stolze Gestalt um die Ecke biegt und du zusehen kannst, wie er jemandem etwas erklärt und dabei die Hände auf seine unnachahmliche, sprechende Weise bewegt. Und ich bin sicher, daß es anderen ähnlich ging, obgleich wir auch jetzt nicht darüber sprachen. Ein einziges Mal nur hörte ich, wie jemand sagte: ›Es ist seither alles so anders‹. Es war keine Frage, daß er von Amadeus Fehlen sprach. Davon, daß seine sanfte Baritonstimme in den Gängen nicht mehr zu hören war. Es war nicht nur so, daß man ihn nicht mehr sah, ihm nicht mehr begegnete. Man sah seine Abwesenheit und begegnete ihr als etwas Greifbarem. Sein Fehlen war wie die scharf umrissene Leere auf einer Fotografie, auf der jemand eine Gestalt mit präzisem Scherenschnitt herausgelöst hat, und nun ist die fehlende Gestalt wichtiger, beherrschender als alles andere. Genau so fehlte uns Amadeu: durch seine präzise Abwesenheit.
    Es dauerte Jahre, bis ich ihm wieder begegnete. Er studierte in Coimbra oben, und ich hörte nur ab und zu etwas von ihm durch einen Freund, der einem Medizinprofessor in den Vorlesungen und Sezierkursen assistierte. Amadeu war auch dort bald eine Legende. Keine so glanzvolle freilich. Gestandene, mit Preisen ausgezeichnete Professoren, Koryphäen ihres Fachs, fühlten sich von ihm auf den Prüfstand gestellt. Nicht, weil er mehr gewußt hätte als sie, das denn doch nicht. Aber er war unersättlich in seinem Bedürfnis nach Erklärungen, und es muß im Hörsaal dramatische Szenen gegeben haben, wenn er mit seinem unerbittlichen kartesischen Scharfsinn darauf hinwies, daß etwas, was als eine Erklärung ausgegeben wurde, in Wirklichkeit keine war.
    Einmal muß er einen besonders eitlen Professor verhöhnt haben, indem er dessen Erklärung mit einer von Molière verlachten Auskunft eines Arztes verglich, der die einschläfernde Kraft eines Mittels mit dessen virtus dormitiva erklärt hatte. Er konnte gnadenlos sein, wenn er Eitelkeit vor sich hatte. Gnadenlos. Das Messer ging ihm in der Tasche auf. Sie ist eine verkannte Form von Dummheit , pflegte er

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