Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Kathedralen leben. Ich brauche den Glanz ihrer Fenster, ihre kühle Stille, ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche die Fluten der Orgel und die heilige Andacht betender Menschen. Ich brauche die Heiligkeit von Worten, die Erhabenheit großer Poesie. All das brauche ich. Doch nicht weniger brauche ich die Freiheit und die Feindschaft gegen alles Grausame. Denn das eine ist nichts ohne das andere. Und niemand möge mich zwingen zu wählen.
Gregorius las den Text dreimal, und sein Erstaunen wuchs. Eine lateinische Wortgewalt und stilistische Eleganz, die derjenigen Ciceros in nichts nachstand. Eine Wucht des Gedankens und eine Wahrhaftigkeit der Gefühle, die an Augustinus erinnerte. Ein Siebzehnjähriger. Bei vergleichbarer Virtuosität auf einem Instrument, dachte er, hätte man von einem Wunderkind gesprochen.
Was den Schlußsatz betraf, hatte Pater Bartolomeu recht: Sie war rührend, die Drohung; denn wen sollte sie treffen? Er würde immer die Feindschaft gegen das Grausame wählen, dieser Junge. Dafür würde er notfalls die Kathedralen opfern. Der gottlose Priester würde sich eigene Kathedralen bauen, um der Gewöhnlichkeit der Welt zu trotzen, und seien es nur solche aus goldenen Worten. Seine Feindschaft gegen die Grausamkeit würde nur umso erbitterter werden.
War die Drohung vielleicht doch nicht so leer? Hatte Amadeu, als er dort vorne stand, unwissentlich vorweggenommen, was er fünfunddreißig Jahre später tun würde: sich den Plänen der Widerstandsbewegung, auch Jorges Plänen, zu widersetzen und Estefânia Espinhosa zu retten?
Gregorius wünschte, er könnte seine Stimme hören und die glühende Lava spüren, auf der seine Worte dahinflossen. Er holte Prados Aufzeichnungen hervor und richtete das Licht der Taschenlampe auf das Bild. Meßdiener war er gewesen, ein Kind, dessen erste Leidenschaft den Altarkerzen gegolten hatte und den biblischen Worten, die in ihrem hellen Schein unantastbar erschienen waren. Doch dann waren Worte aus anderen Büchern dazwischengekommen, Worte, die in ihm gewuchert hatten, bis aus ihm einer geworden war, der alle fremden Worte auf die Goldwaage legte und seine eigenen schmiedete.
Gregorius knöpfte den Mantel zu, schob die kalten Hände in die Ärmel und legte sich auf die Bank. Er war erschöpft. Erschöpft von der Anstrengung des Zuhörens und dem Fieber des Verstehenwollens. Erschöpft aber auch von der Wachheit nach innen, die mit diesem Fieber einherging und ihm manchmal vorkam, als sei sie nichts anderes als das Fieber selbst. Zum erstenmal vermißte er das Bett in seiner Berner Wohnung, wo er lesend auf den Moment zu warten pflegte, wo er endlich würde einschlafen können. Er dachte an die Kirchenfeldbrücke, bevor die Portugiesin sie betreten und verwandelt hatte. Er dachte an die Lateinbücher auf dem Pult im Klassenzimmer. Zehn Tage war es jetzt her. Wer hatte an seiner Stelle den ablativus absolutus eingeführt? Den Aufbau der Ilias erläutert? In der Hebräischklasse hatten sie zuletzt Luthers Wortwahl besprochen, als er sich entschloß, Gott einen eifernden Gott sein zu lassen. Er hatte den Schülern die riesige Distanz erläutert, die zwischen dem deutschen und dem hebräischen Text lag, eine Distanz, die einem den Atem verschlagen könne. Wer würde dieses Gespräch jetzt fortsetzen?
Gregorius fror. Die letzte Metro war längst abgefahren. Es gab kein Telefon und keine Taxis, und es würde Stunden dauern, bis er zu Fuß beim Hotel wäre. Vor der Tür der Aula war das leise wischende Geräusch der Fledermäuse zu hören. Ab und zu quietschte eine Ratte. Dazwischen Grabesstille.
Er hatte Durst und war froh, in der Manteltasche ein Bonbon zu finden. Als er es in den Mund schob, sah er Natalie Rubins Hand vor sich, die ihm damals das knallrote Bonbon hingehalten hatte. Einen winzigen Augenblick lang hatte es so ausgesehen, als wolle sie ihm das Bonbon selbst in den Mund schieben. Oder hatte er sich das nur eingebildet?
Sie streckte sich und lachte, als er sie fragte, wie er Maria João finden solle, wo niemand ihren Nachnamen zu kennen schien. Sie standen seit Tagen an einer Hähnchenbude beim Friedhof von Prazeres, er und Natalie, denn dort war es gewesen, wo Mélodie Maria zuletzt gesehen hatte. Es wurde Winter und begann zu schneien. Der Zug nach Genf setzte sich im Berner Bahnhof in Bewegung. Wieso er denn eingestiegen sei, fragte der strenge Schaffner, und noch dazu in die erste Klasse. Frierend suchte Gregorius in allen Taschen nach der
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