Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Fahrkarte. Als er aufwachte und sich mit steifen Gliedern aufsetzte, begann es draußen zu dämmern.
20
In der ersten Metro war er für eine Weile der einzige Fahrgast, und es kam ihm vor, als sei der Zug eine weitere Episode in der stillen, imaginären Welt des Liceu, in der er sich einzurichten begann. Dann kamen Portugiesen herein, arbeitende Portugiesen, die nichts mit Amadeu de Prado zu tun hatten. Gregorius war dankbar für ihre nüchternen, mürrischen Gesichter, die den Gesichtern der Leute verwandt waren, die in der Länggasse frühmorgens in den Bus stiegen. Würde er hier leben können? Leben und arbeiten, was immer es sein mochte?
Der Portier im Hotel betrachtete ihn mit Sorge. Ob es ihm gutgehe? Ob ihm auch nichts zugestoßen sei? Dann überreichte er ihm einen Umschlag aus dickem Papier, mit rotem Siegellack verschlossen. Er sei gestern nachmittag von einer älteren Frau überbracht worden, die bis spät in die Nacht auf ihn gewartet habe.
Adriana , dachte Gregorius. Von den Leuten, die er hier kennengelernt hatte, würde nur sie einen Brief versiegeln. Doch die Beschreibung des Portiers paßte nicht auf sie. Und sie wäre ja auch nicht selbst gekommen, nicht eine Frau wie sie. Es mußte die Haushälterin sein, die Frau, zu deren Aufgaben es gehören würde, allen Staub von Amadeus Zimmer im Dachgeschoß fernzuhalten, damit nichts an das Verrinnen der Zeit gemahnte. Es sei alles in Ordnung, versicherte Gregorius noch einmal und ging hinauf.
Queria vê-lo! Ich möchte Sie sehen. Adriana Soledade de Almeida Prado. Das war alles, was auf dem teuren Briefbogen stand. Geschrieben mit der gleichen schwarzen Tinte, die er von Amadeu kannte, mit Buchstaben, die zugleich ungelenk und hochnäsig wirkten. Als habe sich die Schreiberin mühsam an jeden Buchstaben erinnern müssen, um ihn dann mit eingerosteter Grandezza hinzusetzen. Hatte sie vergessen, daß er kein Portugiesisch konnte und sie Französisch miteinander gesprochen hatten?
Für einen Moment erschrak Gregorius über die lakonischen Worte, die wie ein Befehl klangen, der ihn in das blaue Haus zitierte. Doch dann sah er das bleiche Gesicht und die schwarzen Augen mit dem bitteren Blick vor sich, er sah die Frau, wie sie am Rande des Abgrunds durch das Zimmer des Bruders ging, dessen Tod nicht sein durfte, und nun klangen die Worte nicht mehr gebieterisch, sondern wie ein Hilferuf aus der heiseren Kehle mit dem schwarzen, geheimnisvollen Samtband.
Er betrachtete den schwarzen Löwen, offenbar das Wappentier der Prados, das oben auf dem Briefbogen, genau in der Mitte, eingestanzt war. Der Löwe paßte zur Strenge des Vaters und zur Düsternis seines Todes, er paßte zu Adrianas schwarzer Gestalt, und er paßte auch zur unerbittlichen Kühnheit in Amadeus Wesen. Mit Mélodie dagegen, dem leichtfüßigen, unsteten Mädchen, hervorgegangen aus ungewohntem Leichtsinn am Ufer des Amazonas, hatte er nichts zu tun. Und mit der Mutter, mit Maria Piedade Reis? Warum sprach niemand von ihr?
Gregorius duschte und schlief dann bis mittags. Er genoß, daß es ihm gelang, zuerst an sich zu denken und Adriana warten zu lassen. Hätte er das auch in Bern gekonnt?
Später, auf dem Weg zum blauen Haus, ging er im Antiquariat von Júlio Simões vorbei und fragte ihn, wo er eine persische Grammatik bekommen könne. Und welches die beste Sprachschule wäre, wenn er sich entschließen sollte, Portugiesisch zu lernen.
Simões lachte. »Alles auf einmal, Portugiesisch und Persisch?«
Gregorius’ Ärger dauerte nur einen Moment. Der Mann konnte nicht wissen, daß es zwischen Portugiesisch und Persisch an diesem Punkt seines Lebens keinen Unterschied gab; daß sie in gewissem Sinne ein und dieselbe Sprache waren. Simões fragte noch, wie weit er mit seiner Suche nach Prado gekommen sei und ob ihm Coutinho habe helfen können. Eine Stunde später dann, es ging auf vier Uhr zu, klingelte Gregorius am blauen Haus.
Die Frau, die öffnete, mochte Mitte fünfzig sein.
»Sou Clotilde, a criada« , sagte sie, ich bin das Dienstmädchen.
Mit einer Hand, die gezeichnet war von lebenslanger Hausarbeit, fuhr sie sich durchs angegraute Haar und prüfte, ob der Knoten richtig saß.
»A Senhora está no salão« , sagte sie und ging voraus.
Wie beim ersten Mal war Gregorius von der Größe und Eleganz des Salons überwältigt. Sein Blick fiel auf die Standuhr. Sie zeigte immer noch sechs Uhr dreiundzwanzig. Adriana saß am Tisch in der Ecke. Der herbe Geruch nach Medizin
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