Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
heute bleibe ich stehen, wenn ich einen gregorianischen Gesang höre, und einen unachtsamen Moment lang bin ich traurig, daß die frühere Trunkenheit unwiderruflich der Rebellion gewichen ist. Einer Rebellion, die wie eine Stichflamme in mir hochschoß, als ich das erstemal diese beiden Worte hörte: sacrificium intellectu¯s .
Wie sollen wir glücklich sein ohne Neugierde, ohne Fragen, Zweifel und Argumente? Ohne Freude am Denken? Die beiden Worte, die wie ein Hieb mit dem Schwert sind, das uns enthauptet, sie bedeuten nichts weniger als die Forderung, unser Fühlen und Tun gegen unser Denken zu leben, sie sind die Aufforderung zu einer umfassenden Gespaltenheit, der Befehl, gerade das zu opfern, was der Kern eines jeden Glücks ist: die innere Einheit und Stimmigkeit unseres Lebens. Der Sklave auf der Galeere, er ist gekettet, aber er kann denken, was er will. Doch was Er, unser Gott, von uns verlangt, ist, daß wir unsere Versklavung eigenhändig in unsere tiefsten Tiefen hineintreiben und es auch noch freiwillig und mit Freuden tun. Kann es eine größere Verhöhnung geben?
Der Herr, er ist in seiner Allgegenwart einer, der uns Tag und Nacht beobachtet, er führt in jeder Stunde, jeder Minute, jeder Sekunde Buch über unser Tun und Denken, nie läßt er uns in Ruhe, nie gönnt er uns einen Moment, wo wir ganz für uns sein könnten. Was ist ein Mensch ohne Geheimnisse? Ohne Gedanken und Wünsche, die nur er, er ganz allein, kennt? Die Folterknechte, diejenigen der Inquisition und die heutigen, sie wissen: Schneide ihm den Rückzug nach innen ab, lösche nie das Licht, lasse ihn nie allein, verwehre ihm Schlaf und Stille: Er wird reden. Daß die Folter uns die Seele stiehlt, das bedeutet: Sie zerstört die Einsamkeit mit uns selbst, die wir brauchen wie die Luft zum Atmen. Hat der Herr, unser Gott, nicht bedacht, daß er uns mit seiner ungezügelten Neugierde und abstoßenden Schaulust die Seele stiehlt, eine Seele zudem, die unsterblich sein soll?
Wer möchte im Ernst unsterblich sein? Wer möchte bis in alle Ewigkeit leben? Wie langweilig und schal es sein müßte zu wissen: Es spielt keine Rolle, was heute passiert, in diesem Monat, diesem Jahr: Es kommen noch unendlich viele Tage, Monate, Jahre. Unendlich viele, buchstäblich. Würde, wenn es so wäre, noch irgend etwas zählen ? Wir bräuchten nicht mehr mit der Zeit zu rechnen, könnten nichts verpassen, müßten uns nicht beeilen. Es wäre gleichgültig, ob wir etwas heute tun oder morgen, vollkommen gleichgültig. Millionenfache Versäumnisse würden vor der Ewigkeit zu einem Nichts, und es hätte keinen Sinn, etwas zu bedauern, denn es bliebe immer Zeit, es nachzuholen. Nicht einmal in den Tag hinein leben könnten wir, denn dieses Glück zehrt vom Bewußtsein der verrinnenden Zeit, der Müßiggänger ist ein Abenteurer im Angesicht des Todes, ein Kreuzritter wider das Diktat der Eile. Wenn immer und überall Zeit für alles und jedes ist: Wo sollte da noch Raum sein für die Freude an Zeitverschwendung?
Ein Gefühl ist nicht mehr dasselbe, wenn es zum zweitenmal kommt. Es verfärbt sich durch das Gewahren seiner Wiederkehr. Wir werden unserer Gefühle müde und überdrüssig, wenn sie zu oft kommen und zu lange dauern. In der unsterblichen Seele müßte ein gigantischer Überdruß anwachsen und eine schreiende Verzweiflung angesichts der Gewißheit, daß es nie enden wird, niemals. Gefühle wollen sich entwickeln, und wir mit ihnen. Sie sind, was sie sind, weil sie abstoßen, was sie einst waren, und weil sie einer Zukunft entgegenströmen, wo sie sich von neuem von sich selbst entfernen werden. Wenn dieser Strom ins Unendliche flösse: Es müßten in uns tausendfach Empfindungen entstehen, die wir uns, gewohnt an eine überschaubare Zeit, überhaupt nicht vorstellen können. So daß wir gar nicht wissen, was uns versprochen wird, wenn wir vom ewigen Leben hören. Wie wäre es, in Ewigkeit wir zu sein, bar des Trostes, dereinst erlöst zu werden von der Nötigung, wir zu sein? Wir wissen es nicht, und es ist ein Segen, daß wir es nie wissen werden. Denn das eine wissen wir doch: Es wäre die Hölle, dieses Paradies der Unsterblichkeit.
Es ist der Tod, der dem Augenblick seine Schönheit gibt und seinen Schrecken. Nur durch den Tod ist die Zeit eine lebendige Zeit. Warum weiß das der HERR nicht, der allwissende Gott? Warum droht er uns mit einer Endlosigkeit, die unerträgliche Ödnis bedeuten müßte?
Ich möchte nicht in einer Welt ohne
Weitere Kostenlose Bücher