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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zur Metro, die ihn hinaus zum Liceu bringen würde.
    Das Schulgebäude war ganz im Dunkel des Parks versunken und sah verlassen aus, wie noch nie ein Gebäude verlassen ausgesehen hatte. Als er sich vorhin auf den Weg machte, hatte Gregorius den Kegel von Sonnenlicht vor Augen gehabt, der am Mittag durch das Büro von Senhor Cortês gewandert war. Was er jetzt vor sich hatte, war ein Gebäude, das still dalag wie ein gesunkenes Schiff auf dem Meeresgrund, verloren für die Menschen und unberührbar für die Zeit.
    Er setzte sich auf einen Stein und dachte an den Schüler, der vor langer Zeit nachts ins Berner Gymnasium eingebrochen war und aus dem Zimmer des Rektors für Tausende von Franken in alle Welt hinaus telefoniert hatte, um sich zu rächen. Hans Gmür hatte er geheißen, und er hatte seinen Namen getragen wie eine Garrotte. Gregorius hatte die Rechnung bezahlt und Kägi überredet, keine Anzeige zu erstatten. Er hatte sich mit Gmür in der Stadt getroffen und herauszufinden versucht, was es denn war, wofür er hatte Rache nehmen wollen. Es war nicht gelungen. »Rache eben«, hatte der Junge einfach gesagt, immer wieder. Er wirkte hinter seinem Apfelkuchen erschöpft und schien zerfressen von einem Ressentiment, das so alt war wie er selbst. Als sie sich trennten, hatte ihm Gregorius lange nachgeblickt. Irgendwie bewundere er ihn auch ein bißchen, sagte er später zu Florence, oder beneide ihn.
    »Stell dir vor: Er sitzt im Dunkeln an Kägis Schreibtisch und ruft in Sydney an, in Belém, in Santiago, sogar in Peking. Immer die Botschaften, wo sie Deutsch sprechen. Er hat nichts zu sagen, nicht das geringste. Er will einfach nur die offene Leitung rauschen hören und spüren, wie die sündhaft teuren Sekunden verrinnen. Ist das nicht irgendwie grandios?«
    »Und das sagst ausgerechnet du? Ein Mann, der seine Rechnungen am liebsten bezahlen würde, noch bevor sie geschrieben sind? Um ja bei niemandem in der Schuld zu stehen?«
    »Eben«, hatte er gesagt, »eben.«
    Florence hatte die übertrieben modische Brille zurechtgerückt, wie immer, wenn er so etwas sagte.
    Jetzt knipste Gregorius die Taschenlampe an und folgte dem Lichtstrahl zum Eingang. In der Finsternis klang das Quietschen der Tür viel lauter als am Tag, und es klang viel mehr nach etwas Verbotenem. Das Geräusch aufgeschreckter Fledermäuse flutete durch das Haus. Gregorius wartete, bis es abgeebbt war, bevor er durch die Schwingtür ins Hochparterre ging. Wie mit einem Besen wischte er mit dem Licht über den Steinboden der Gänge, um nicht auf eine tote Ratte zu treten. Es war eisig in den ausgekühlten Mauern, und als erstes ging er ins Zimmer des Rektors, um seinen Pullover zu holen.
    Er betrachtete die hebräische Bibel. Sie hatte Pater Bartolomeu gehört. 1970, als das Liceu geschlossen wurde, weil es eine rote Kaderschmiede sei, hatten der Pater und der Nachfolger von Senhor Cortês im leeren Büro des Rektors gestanden, erfüllt von Wut und einem Gefühl der Ohnmacht. »Wir hatten das Bedürfnis, etwas zu tun, etwas Symbolisches«, hatte der Pater berichtet. Und da hatte er seine Bibel in die Schublade des Schreibtischs getan. Der Rektor hatte ihn angeblickt und gegrinst. »Perfekt. Der Herr wird es ihnen schon noch zeigen«, hatte er gesagt.
    Gregorius setzte sich in der Aula auf die Bank für die Schulleitung, wo Senhor Cortês mit steinerner Miene der Rede von Prado gefolgt war. Er holte Pater Bartolomeus Mappe aus der Tüte der Buchhandlung, löste die Bänder und nahm den Stapel von Blättern heraus, den Amadeu nach der Rede vorn auf dem Pult geordnet hatte, eingehüllt in betretenes, entsetztes Schweigen. Es waren die gleichen kalligraphisch hingesetzten Buchstaben in tiefschwarzer Tinte, die er bereits auf den Bogen des Briefs gesehen hatte, den Prado aus Oxford an Mélodie geschickt hatte. Gregorius richtete den Strahl der Taschenlampe auf das gelblich schimmernde Papier und begann zu lesen.
     
     
    EHRFURCHT UND ABSCHEU VOR GOTTES WORT
     
    Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose

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