Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
oder Parfum hing auch jetzt wieder in der Luft.
»Sie kommen spät«, sagte sie.
Der Brief hatte Gregorius auf grußlose Worte dieser strengen Art vorbereitet. Während er sich an den Tisch setzte, spürte er verblüfft, wie gut er mit der herben Art dieser alten Frau zurechtkam. Wie leicht es ihm fiel, ihr ganzes Benehmen als Ausdruck von Schmerz und Einsamkeit zu sehen.
»Jetzt bin ich ja da«, sagte er.
»Ja«, sagte sie. Und dann, nach einer ganzen Weile, noch einmal: »Ja.«
Lautlos und unbemerkt von Gregorius war das Dienstmädchen an den Tisch getreten.
»Clotilde« , sagte Adriana, »liga o aparelho«, stell den Apparat an.
Erst jetzt bemerkte Gregorius den Kasten. Es war ein uraltes Tonbandgerät, ein Ungetüm mit Bandspulen so groß wie Teller. Clotilde zog das Band durch den Schlitz beim Tonkopf und befestigte es in der leeren Spule. Dann drückte sie eine Taste, und die Spulen begannen sich zu drehen. Sie ging hinaus.
Für eine Weile war nur Knistern und Rauschen zu hören. Dann sagte eine Frauenstimme:
» Porque não dizem nada? « Warum sagt ihr nichts?
Mehr verstand Gregorius nicht, denn was nun aus dem Apparat kam, war für seine Ohren ein chaotisches Gewirr von Stimmen, überdeckt von Rauschen und lautem Geräusch, das vom ungeschickten Umgang mit dem Mikrofon herrühren mußte.
»Amadeu«, sagte Adriana, als eine einzelne Männerstimme zu hören war. Ihre gewöhnliche Heiserkeit hatte sich beim Aussprechen des Namens gesteigert. Sie führte die Hand zum Hals und umschloß das schwarze Samtband, als wolle sie es noch fester auf die Haut drücken.
Gregorius klebte mit dem Ohr am Lautsprecher. Die Stimme war anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Von einer sanften Baritonstimme hatte Pater Bartolomeu gesprochen. Die Tonlage stimmte, doch das Timbre war herb, man spürte, daß dieser Mann mit schneidender Schärfe sprechen konnte. Hatte es auch damit zu tun, daß die einzigen Worte, die Gregorius verstand, »não quero« waren, ich will nicht?
»Fátima«, sagte Adriana, als aus dem Gewirr eine neue Stimme hervortrat. Die geringschätzige Art, mit der sie den Namen aussprach, sagte alles. Fátima hatte gestört. Nicht nur in diesem Gespräch. In jedem Gespräch. Sie war Amadeus nicht wert gewesen. Sie hatte sich den teuren Bruder widerrechtlich angeeignet. Es wäre besser gewesen, sie wäre nie in sein Leben getreten.
Fátima hatte eine sanfte, dunkle Stimme, der man anmerkte, daß sie es nicht leicht hatte, sich durchzusetzen. Lag in der Sanftheit auch der Anspruch, daß man ihr mit besonderer Aufmerksamkeit und Nachsicht zuhören möge? Oder war es bloß das Rauschen, das diesen Eindruck erzeugte? Niemand unterbrach sie, und am Ende ließen die anderen verklingen, was sie gesagt hatte.
»Alle sind sie immer so rücksichtsvoll zu ihr, so verdammt rücksichtsvoll«, sagte Adriana, noch während Fátima sprach. »Als sei ihr Lispeln ein fürchterliches Schicksal, das alles entschuldigt, jeden religiösen Kitsch, einfach alles.«
Gregorius hatte das Lispeln nicht gehört, es war in den begleitenden Geräuschen untergegangen.
Die nächste Stimme gehörte Mélodie. Sie redete in rasendem Tempo, schien absichtlich ins Mikrofon zu blasen und brach dann in lautes Lachen aus. Angeekelt drehte sich Adriana weg und blickte zum Fenster hinaus. Als sie ihre eigene Stimme hörte, streckte sie die Hand rasch nach dem Schalter aus und stellte ab.
Minutenlang blieb Adrianas Blick an der Maschine hängen, die die Vergangenheit zur Gegenwart machte. Es war der gleiche Blick wie am Sonntag, als sie auf Amadeus Bücher hinuntergesehen und zu dem toten Bruder gesprochen hatte. Sie hatte die Aufzeichnung Hunderte, vielleicht Tausende von Malen gehört. Sie kannte jedes Wort, jedes Knistern, jedes Knacken und Rauschen. Alles war, als säße sie auch jetzt noch mit den anderen zusammen, drüben im Haus der Familie, wo Mélodie nun wohnte. Warum also sollte sie anders als in der Gegenwartsform davon sprechen, oder in einer Vergangenheitsform, die tat, als sei es gestern gewesen?
»Wir trauten unseren Augen nicht, als Mamã das Ding nach Hause brachte. Sie kann mit Maschinen nichts anfangen, überhaupt nichts. Fürchtet sich davor. Denkt immer, sie würde alles kaputt machen. Und dann bringt sie ausgerechnet ein Tonbandgerät nach Hause, eines der ersten, die man kaufen konnte.
›Nein, nein‹, sagte Amadeu, als wir später darüber sprachen, ›es geht nicht darum, daß sie unsere Stimmen verewigen
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