Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
will. Es geht um etwas ganz anderes. Darum, daß wir ihr wieder einmal Beachtung schenken.‹
Er hat recht. Jetzt, wo Papá tot ist und wir hier die Praxis haben, muß ihr das Leben leer vorkommen. Rita treibt sich herum und besucht sie selten. Zwar fährt Fátima jede Woche zu ihr. Doch das hilft Mamã wenig.
›Sie möchte lieber dich sehen‹, sagt sie zu Amadeu, wenn sie zurückkommt.
Amadeu will nicht mehr. Er sagt es nicht, aber ich weiß es. Er ist feige, wenn es um Mamã geht. Die einzige Feigheit, die es an ihm gibt. Er, der sonst keiner unangenehmen Sache ausweicht, keiner.«
Adriana faßte sich an den Hals. Einen Moment lang schien es, als würde sie von dem Geheimnis zu sprechen beginnen, das sich hinter dem Samtband verbarg, und Gregorius hielt den Atem an. Doch der Moment ging vorbei, und jetzt kehrte Adrianas Blick in die Gegenwart zurück.
Ob er noch einmal hören dürfe, was Amadeu auf dem Band sage, fragte Gregorius.
»Não me admira nada« , das verwundert mich nicht, begann Adriana zu zitieren, und dann wiederholte sie jedes von Amadeus Worten aus dem Gedächtnis. Es war mehr als ein Zitieren. Auch mehr als ein Nachbilden, wie es einem guten Schauspieler in einer Sternstunde gelingt. Die Nähe war viel größer. Sie war vollkommen. Adriana war Amadeu.
Wieder verstand Gregorius não quero , und noch etwas Neues konnte er ausmachen: ouvir a minha voz de fora , meine Stimme von außen hören.
Am Ende angekommen, begann Adriana zu übersetzen. Daß das Ganze möglich sei, nein, das verwundere ihn nicht, sagte Prado. Das technische Prinzip kenne er aus der Medizin. Aber ich mag nicht, was es mit den Worten macht. Er wolle seine Stimme nicht von außen hören, das wolle er sich nicht antun, er finde sich so schon unsympathisch genug. Und dann das Einfrieren des gesprochenen Worts: Man spreche doch gewöhnlich im befreienden Bewußtsein, daß das meiste vergessen werde. Er finde es furchtbar, denken zu müssen, daß alles aufbewahrt werde, jedes unbedachte Wort, jede Geschmacklosigkeit. Es erinnere ihn an die Indiskretion Gottes.
»Das murmelt er nur«, sagte Adriana, »Mamã mag so etwas nicht, und Fátima macht es hilflos.«
Die Maschine, sie zerstöre die Freiheit des Vergessens, sagte Prado weiter. Aber ich mache dir doch keinen Vorwurf, Mamã, es ist ja auch ganz lustig. Du darfst nicht alles so ernst nehmen, was dein oberschlauer Sohn sagt.
»Warum zum Teufel meinst du immer, sie trösten und alles zurücknehmen zu müssen?« brauste Adriana auf. »Wo sie dich auf ihre sanfte Art derart gequält hat! Warum kannst du nicht einfach zu dem stehen, was du denkst? Wo du es doch sonst immer tust! Immer! «
Ob er das Band nun trotzdem noch einmal hören dürfe, wegen der Stimme, fragte Gregorius. Die Bitte rührte sie. Als sie das Band zurücklaufen ließ, hatte sie das Gesicht eines kleinen Mädchens, das verwundert und glücklich ist, daß die Erwachsenen das, was ihm wichtig ist, auch wichtig finden.
Gregorius hörte sich Prados Worte immer wieder an. Er legte das Buch mit dem Portrait auf den Tisch und hörte die Stimme in das Gesicht hinein, bis sie dem Gesicht wirklich gehörte. Dann sah er Adriana an und erschrak. Sie mußte ihn unausgesetzt angesehen haben, und dabei hatte sich ihr Gesicht geöffnet, alle Strenge und Verbitterung war gewichen, und geblieben war ein Ausdruck, mit dem sie ihn in der Welt ihrer Liebe und Bewunderung für Amadeu willkommen hieß. Seien Sie vorsichtig. Mit Adriana, meine ich , hörte er Mariana Eça sagen.
»Kommen Sie«, sagte Adriana, »ich möchte Ihnen zeigen, wo wir arbeiten.«
Ihr Schritt war sicherer und schneller als bisher, als sie ihm ins Erdgeschoß voranging. Sie ging zu ihrem Bruder in die Praxis, sie wurde gebraucht, es eilte, wer Schmerzen hat oder Angst, kann nicht warten , pflegte Amadeu zu sagen. Zielsicher steckte sie den Schlüssel ins Schloß, öffnete alle Türen und machte überall Licht.
Vor einunddreißig Jahren hatte Prado hier seinen letzten Patienten behandelt. Auf dem Untersuchungstisch war ein frisches Papiertuch ausgebreitet. Auf der Geräteablage gab es Spritzen, wie man sie heute nicht mehr benutzte. Mitten auf dem Schreibtisch die offene Patientenkartei, eine der Karten schräg gestellt. Daneben das Stethoskop. Im Abfallkorb Wattebausche mit Blut von einst. An der Tür zwei weiße Mäntel. Nicht ein Stäubchen.
Adriana nahm einen der weißen Mäntel vom Haken und zog ihn an. »Seiner hängt immer links, er ist
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