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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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nacht erinnert er mich daran, daß es Dinge gibt, die ich nicht mehr rechtzeitig werde tun können.« Er schloß die Augen wie stets, wenn er einem stummen Einwand von mir zuvorkommen wollte. »Es geht nicht um unwichtige kleine Freuden und flüchtige Genüsse, wie wenn man in staubiger Hitze ein Glas Wasser hinunterstürzt. Es geht um Dinge, die man zu tun und zu erleben wünscht, weil erst sie das eigene, dieses ganz besondere Leben ganz machen würden und weil ohne sie das Leben unvollständig bliebe, ein Torso und bloßes Fragment.«
    Vom Augenblick des Todes an sei er aber doch gar nicht mehr da, um diese Unabgeschlossenheit noch erleiden zu müssen und betrauern zu können, sagte ich.
    Ja, sicher, meinte Jorge – er klang gereizt wie immer, wenn er etwas gehört hatte, was ihm unerheblich vorkam –, aber es gehe ja um das jetzige, lebendige Bewußtsein, daß das Leben unabgeschlossen bleiben werde, bruchstückhaft und ohne die erhoffte Stimmigkeit. Dieses Wissen, das sei das Schlimme – die Angst vor dem Tod eben.
    Aber das Unglück bestehe nicht darin, daß sein Leben jetzt , wo sie sprächen, noch nicht diese innere Abgeschlossenheit besitze. Oder?
    Jorge schüttelte den Kopf. Er spreche nicht von einem Bedauern, jetzt noch nicht alle Erfahrungen gemacht zu haben, die zu seinem Leben gehören müßten, damit es ein ganzes wäre. Wenn das Bewußtsein von der jetzigen Unabgeschlossenheit des eigenen Lebens für sich genommen schon ein Unglück wäre, müßte ein jeder mit Notwendigkeit in seinem Leben stets unglücklich sein. Das Bewußtsein der Offenheit sei umgekehrt eine Bedingung dafür, daß es sich um ein lebendiges und nicht schon totes Leben handle. Es müsse also etwas anderes sein, was das Unglück ausmache: das Wissen, daß es auchin Zukunft nicht mehr möglich sein werde, jene abrundenden, vervollkommnenden Erfahrungen zu machen.
    Wenn aber für keinen Augenblick gelte, sagte ich, daß die in ihm bestehende Unabgeschlossenheit ihn zu einem unglücklichen Augenblick machen könne – warum sollte das nicht auch für all diejenigen Augenblicke gelten, die von dem Bewußtsein durchdrungen seien, daß die Ganzheit nicht mehr zu erreichen sei? Es sehe doch ganz danach aus, als sei die gewünschte Ganzheit nur als zukünftige wünschenswert, als etwas, worauf man sich zubewegt, und nicht etwas, bei dem man ankommt. »Ich will es noch anders ausdrücken«, fügte ich hinzu: »Von welchem Standpunkt aus ist die unerreichbare Ganzheit zu beklagen und ein möglicher Gegenstand der Furcht? Wenn es doch nicht der Standpunkt der fließenden Augenblicke ist, für den die fehlende Ganzheit kein Übel ist, sondern ein Anreiz und Zeichen der Lebendigkeit?«
    Einzuräumen sei, sagte Jorge, daß man, um die Art von Furcht empfinden zu können, mit der er aufgewacht sei, einen anderen Standpunkt einnehmen müsse als denjenigen der gewöhnlichen, nach vorne offenen Augenblicke: Man müsse, um seine fehlende Ganzheit als Übel erkennen zu können, das Leben als ganzes in den Blick nehmen, es sozusagen von seinem Ende her betrachten – genau so, wie man es eben tue, wenn man an den Tod denke.
    »Doch warum sollte dieser Blick Anlaß zu Panik sein?« fragte ich. »Als erlebte ist die jetzige Unvollständigkeit deines Lebens kein Übel, darin waren wir ja übereingekommen. Fast scheint es, als sei sie ein Übel nur als eine Unvollständigkeit, die du nicht mehr erleben wirst, als eine, die man erst von jenseits des Grabes aus konstatieren kann. Denn als Erlebender kannst du schließlich nicht in die Zukunft vorauseilen, um von einem noch gar nicht eingetretenen Ende her verzweifelt zu sein über eine Mangelhaftigkeit deines Lebens, die an jenen vorweggenommenen Endpunkt erst noch herankriechen muß. Und so scheint deine Todesangst denn einen absonderlichen Gegenstand zu haben: eine Unvollständigkeit deines Lebens, die du nie wirst erleben können.«
    »Ich wäre gern noch einer geworden, der den Flügel zum Klingen bringen kann«, sagte Jorge. »Einer, der – sagen wir – die Goldberg-Variationen von Bach darauf spielen kann. Estefânia – sie kann es, sie hat sie ganz allein für mich gespielt, und seitdem trage ich den Wunsch in mir, es auch zu können. Bis vor einer Stunde habe ich, so scheint es, mit dem unbestimmten, nie ausgeleuchteten Gefühl gelebt, daß ich noch die Zeit haben werde, es zu lernen. Erst der Bühnentraum ließ mich mit der Gewißheit aufwachen: Mein Leben wird ohne die gespielten Variationen

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