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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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illusionslose Romantiker, den Amadeu de Prado gebraucht hatte, um ganz zu sein. Der Mann, dessen Überlegenheit im Schach für ihn, den Überlegenen, so wichtig gewesen war. Der Mann, der als erster in Lachen ausgebrochen war, als ein bellender Hund die betretene Stille nach Prados gotteslästerlicher Rede beendet hatte. Der Mann, der auf einem Kontrabaß sägen konnte, bis der Bogen brach, weil er spürte, daß er hoffnungslos unbegabt war. Und schließlich auch der Mann, dem Prado entgegengetreten war, als ihm klar wurde, daß er Estefânia Espinhosa zum Tode verurteilt hatte, die Frau, auf die er – wenn Pater Bartolomeus Vermutung zutraf – Jahre später auf dem Friedhof zugegangen war, ohne ihrem Blick zu begegnen.
    Gregorius verließ die Apotheke und setzte sich in das gegenüberliegende Café. Er wußte, daß es in Prados Buch eine Aufzeichnung gab, die mit einem Anruf von Jorge begann. Als er jetzt, mitten im Straßenlärm und umgeben von Leuten, die sich unterhielten oder sich mit geschlossenen Augen von der Frühlingssonne bescheinen ließen, im Wörterbuch zu blättern und zu übersetzen begann, spürte er, daß etwas Großes und eigentlich Unerhörtes mit ihm geschah: Er beschäftigte sich mit dem geschriebenen Wort inmitten von Stimmen, von Straßenmusik und Kaffeedampf. Aber du liest doch im Café manchmal auch Zeitung , hatte Florence eingewandt, als er ihr erklärte, daß Texte nach schützenden Mauern verlangten, die den Lärm der Welt fernhielten, am besten die dicken, soliden Mauern eines unterirdischen Archivs. Ach so, Zeitung , hatte er erwidert, ich rede von Texten . Und jetzt, mit einemmal, fehlten ihm die Mauern nicht mehr, die portugiesischen Worte vor ihm verschmolzen mit den portugiesischen Worten neben und hinter ihm, er konnte sich vorstellen, daß Prado und O’Kelly am Nebentisch saßen und vom Kellner unterbrochen wurden, ohne daß es den Worten etwas ausmachte.
     
    AS SOMBRAS DESCONCERTANTES DA MORTE. DIE VERWIRRENDEN SCHATTEN DES TODES . »Ich bin aus dem Schlaf aufgeschreckt und hatte Angst vor dem Tod«, sagte Jorge am Telefon, »und auch jetzt noch bin ich in heller Panik.« Es war kurz vor drei in der Nacht. Seine Stimme klang anders, als ich sie kannte, wenn er mit den Kunden der Apotheke sprach, mir etwas zu trinken anbot oder sagte: ›Du bist am Zug.‹ Man hätte nicht sagen können, daß die Stimme bebte, aber sie war belegt wie eine Stimme, hinter der mächtige Gefühle, nur mühsam beherrscht, mit einem Ausbruch drohen.
    Er hatte geträumt, daß er auf der Bühne vor seinem neuen Steinway-Flügel saß und nicht zu spielen wußte. Es war noch nicht lange her, da hatte er, der besessene Rationalist, etwas von betörender Verrücktheit getan: Er hatte mit dem Geld, das ihm der verunglückte Bruder hinterlassen hatte, einen Steinway gekauft, obwohl er noch keinen einzigen Takt auf einem Klavier gespielt hatte. Der Verkäufer hatte sich gewundert, daß er einfach auf einen der glänzenden Flügel zeigte, ohne auch nur den Deckel über der Tastatur zu öffnen. Seither stand der Flügel in musealem Glanz in seiner einsam gewordenen Wohnung und sah aus wie ein monumentaler Grabstein. »Ich wachte auf und wußte plötzlich: Auf dem Flügel so spielen zu können, wie er es verdient – das liegt nicht mehr in der Reichweite meines Lebens.« Er saß mir im Morgenmantel gegenüber und schien tiefer in den Sessel einzusinken als sonst. Verlegen rieb er sich die ewig kalten Hände. »Sicher denkst du jetzt: Das war doch von vornherein klar. Und irgendwie wußte ich es natürlich. Aber siehst du: Als ich aufwachte, wußte ich es zum erstenmal wirklich . Und nun habe ich solche Angst.«
    »Angst wovor?« fragte ich und wartete, bis er, ein Meister des unerschrockenen, geraden Blicks, mich ansehen würde. »Wovor genau ?«
    Ein Lächeln huschte über Jorges Gesicht: Sonst ist immer er es, der mich zur Genauigkeit drängt und seinen analytisch geschulten Verstand, seinen chemischen Schachverstand, meiner Neigung entgegensetzt, die letzten Dinge in schwebender Ungewißheit zu lassen.
    Furcht vor Schmerzen und der Agonie des Sterbens könne es doch bei einem Apotheker unmöglich sein, sagte ich, und was die demütigende Erfahrung des körperlichen und geistigen Verfalls angehe – nun, wir hätten doch oft genug über Mittel und Wege gesprochen für den Fall, daß die Grenze des Erträglichen überschritten sei. Was also sei der Gegenstand seiner Furcht?
    »Der Flügel – seit heute

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