Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
zu Ende gehen.«
Gut, sagte ich, aber warum Angst ? Warum nicht einfach Schmerz, Enttäuschung, Trauer? Oder auch Wut? »Angst hat man vor etwas, das erst noch kommt, das einem noch bevorsteht; doch dein Wissen um den für immer stummen Flügel ist ja nun schon da, wir sprechen darüber als ein gegenwärtiges. Dieses Übel kann andauern, aber es kann nicht größer werden, so daß es eine logische Angst vor seinem Anwachsen geben könnte. Daher mag deine neue Gewißheit dich niederdrücken und würgen, aber sie ist kein Grund für Panik.«
Das sei ein Mißverständnis, hielt mir Jorge entgegen: Die Angst gelte nicht der neuen Gewißheit, sondern dem, wovon sie Gewißheit sei: der zwar erst zukünftigen, jedoch jetzt schon feststehenden Unvollständigkeit seines Lebens, die schon jetzt als Mangel spürbar sei, der seiner Größe wegen die Gewißheit von innen her in Angst verwandle.
Die Ganzheit des Lebens, deren vorweggenommenes Fehlen einem den Schweiß auf die Stirn treibt – was kann sie sein? Worin kann sie bestehen, wenn man bedenkt, wie rhapsodisch, wechselhaft und wetterwendisch unser Leben ist, das äußere wie das innere? Wir sind ja nicht aus einem Guß, ganz und gar nicht. Reden wir einfach vom Bedürfnis nach Sättigung des Erlebens? War das, was Jorge quälte, das unerreichbar gewordene Gefühl, vor einem glänzenden Steinway zu sitzen und sich Bachs Musik so zu eigen zu machen, wie es nur möglich ist, wenn sie den eigenen Händen entspringt? Oder geht es uns um das Bedürfnis, genügend Dinge erlebt zu haben, um ein Leben als ganzes erzählen zu können?
Ist es am Ende eine Frage des Selbstbilds, der bestimmenden Vorstellung, die man sich vor langer Zeit davon gemacht hat, was man geleistet und erlebt haben müßte, damit es das Leben würde, dem man zustimmen könnte? Die Angst vor dem Tod als die Angst vor dem Unerfüllten läge dann – so scheint es – ganz in meiner Hand, denn ich bin es ja, der das Bild vom eigenen Leben, wie es sich erfüllen sollte, entwirft. Was läge näher als der Gedanke: Dann ändere ich das Bild, so daß mein Leben ihm schon jetzt gemäß ist – und sofort müßte die Angst vor dem Tod verschwinden. Wenn sie trotzdem an mir haften bleibt, dann deshalb: Das Bild, obgleich von mir gemacht und von niemand anderem, entspringt nicht launenhafter Willkür und ist nicht verfügbar für beliebige Abänderung, sondern ist verankert in mir und wächst heraus aus dem Kräftespiel meines Fühlens und Denkens, das ich bin. Und so könnte man die Angst vor dem Tod beschreiben als die Angst, nicht der werden zu können, auf den hin man sich angelegt hat.
Das taghelle Bewußtsein der Endlichkeit, wie es Jorge mitten in der Nacht überfiel und wie ich es in manchen meiner Patienten durch die Worte entzünden muß, mit denen ich ihnen die tödliche Diagnose verkünde, verstört uns wie nichts anderes, weil wir, oft ohne es zu wissen, auf eine solche Ganzheit hin leben und weil jeder Augenblick, der uns als lebendiger gelingt, seine Lebendigkeit daraus bezieht, daß er ein Stück im Puzzle jener unerkannten Ganzheit darstellt. Wenn die Gewißheit über uns hereinbricht, daß sie nie mehr zu erreichen sein wird, diese Ganzheit, so wissen wir plötzlich nicht mehr, wie wir die Zeit, die nun nicht mehr daraufhin durchlebt werden kann, leben sollen. Das ist der Grund für eine sonderbare, erschütternde Erfahrung, die einige meiner todgeweihten Patienten machen: daß sie mit ihrer Zeit, wiewohl sie so knapp geworden ist, nichts mehr anzufangen wissen.
Als ich nach dem Gespräch mit Jorge auf die Gasse trat, ging gerade die Sonne auf, und die wenigen Menschen, die mir entgegenkamen, sahen im Gegenlicht wie Schattenrisse aus, Sterbliche ohne Gesicht. Ich setzte mich auf den Sims eines Fensters zu ebener Erde und wartete darauf, daß sich mir ihre Gesichter beim Näherkommen offenbaren würden. Die erste, die näher kam, war eine Frau mit wiegendem Gang. Ihr Gesicht, jetzt sah ich es, war noch schlafverschleiert, aber es war leicht sich vorzustellen, wie es sich im Sonnenlicht öffnen und voller Hoffnung und Erwartung den Ereignissen des Tages entgegenblicken würde, die Augen voll von Zukunft. Ein alter Mann mit Hund war der zweite, der an mir vorbeiging. Jetzt blieb er stehen, zündete eine Zigarette an und ließ den Hund von der Leine, damit er hinüber in den Park laufen konnte. Er liebte den Hund und sein Leben mit dem Hund, daran ließen seine Züge keinen Zweifel. Auch die alte
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