Nachtzug
am einen Ende des gepflasterten Marktplatzes, gegenüber dem örtlichen Hauptquartier der Deutschen. Bei der Kirche handelte es sich um ein beeindruckendes gotisches Bauwerk mit gleich hohen, in die schneeverhangene Luft hineinragenden Türmen, dessen Portale mit Heiligenfiguren geschmückt waren und das an den Dächern ringsherum von Wasserspeiern umgeben war.
Hans Keppler blickte zu dem geschnitzten Eichenportal auf. Obwohl er in seiner Kindheit ein gläubiger Katholik gewesen war, hatte er viele Jahre lang keine Kirche mehr besucht. Aber nun, da er sich das erste Mal seit langem wieder anschickte, die Kirche zu betreten, in der er getauft worden war und seine erste heilige Kommunion empfangen hatte, fühlte er eine innere Ruhe in sich, die er seit Monaten nicht mehr gekannt hatte.
{34} Während er die Stufen hinaufstieg, zog er seine Mütze ab. Dann öffnete er das Portal und betrat die Kirche, wo er sofort von Wärme und dem Duft von Weihrauch eingehüllt wurde. Schließlich stellte er seinen Koffer in einem finsteren Winkel ab und verharrte einen Augenblick wie gebannt. Keppler ließ den Blick durch das Kirchenschiff schweifen und gewahrte hinten zu seiner Linken die Beichtstühle aus Holz, in denen, durch einen Vorhang abgeschirmt, der Priester saß, der die Beichte abnahm. Einige wenige Gläubige standen schweigend an, während ein paar andere Kirchenbesucher vor dem Altar ihre Bußgebete murmelten.
Keppler tauchte die Finger in die Weihwasserschale, die sich rechts von ihm befand, machte das Kreuzzeichen und ließ sich mit Blick auf den Altar auf ein Knie fallen. Als er den sterbenden Jesus am Kruzifix über dem Tabernakel gewahrte, fühlte er, wie seine Handflächen feucht wurden und ihm wieder Schweißperlen auf Gesicht und Hals traten, die den Kragen seines Mantels rasch durchnäßten. Dann erhob er sich. Als er sah, daß der Beichtstuhl leer war, fühlte er, wie ihm die Knie weich wurden. Schließlich begab er sich zu dem arkadenförmigen Gang hinüber.
Er schob den Vorhang beiseite und betrat den Beichtstuhl. Dann ließ er sich auf die Knie fallen, bekreuzigte sich und berührte mit einem Finger das Kruzifix, das über der schmalen, noch verschlossenen Luke hing, hinter der sich der unbekannte Priester verbarg.
Als er noch klein war, hatte er genau hier seine erste Beichte abgelegt.
Sein Herz pochte so laut, daß er kaum wahrnahm, wie das Gitter quietschend beiseite geschoben wurde und der Priester sich ihm zuwandte. Hinter dem engmaschigen Gitterwerk, das sie voneinander trennte, vermochte Keppler gerade die Umrisse eines menschlichen Gesichts wahrzunehmen. Der Priester flüsterte die Beichtformel.
Nach nicht enden wollenden Sekunden, während derer er seine schweißnassen Hände fest zusammenballte, hörte Keppler, wie der Priester murmelte: »Ja?«
Keppler wollte sprechen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Stimmt irgend etwas nicht mit Ihnen, mein Sohn?« flüsterte der Priester.
»Vater, ich …«
{35} Er fuhr sich mit den Händen über seinen Mantel. Er zitterte so fürchterlich, daß er Angst hatte, den ganzen Beichtstuhl zum Beben zu bringen. »Erteilen Sie mir Absolution, Vater. Und bitte fragen Sie nicht, warum!«
»Bist du krank?« erkundigte sich der Priester mit sanfter Stimme.
»Möchtest du lieber in meinem Arbeitszimmer mit mir sprechen?«
»Vater!« sprudelte es aus ihm heraus. »Vater … Ich habe schon so lange nicht mehr gebeichtet. Vater, ich muß Ihnen etwas gestehen …«
Keppler, der sich jetzt endlich überwunden hatte, fühlte, wie es ihm auf einmal leichter fiel zu sprechen.
Der Priester hörte geduldig und mit immer größer werdender Anspannung zu. Schließlich murmelte er ein Gebet.
2
Dr. Jan Szukalski ging langsam die Treppe vom zweiten Stock des Krankenhauses hinunter. Er war alleine, und das Geräusch seiner schwerfälligen Schritte hallte in dem kahlen Treppenhaus wider. Seit er sich als Kind am Bein verletzt hatte, humpelte er, und seine Behinderung machte sich besonders dann bemerkbar, wenn er müde und von Sorgen geplagt war, und dann wirkte er auch älter als seine dreißig Jahre. Unten am Treppenabsatz angekommen, blieb er eine Weile stehen und blickte den langen, düsteren Gang entlang, an dessen Ende sein Büro lag. Obwohl alle fünfzig Betten belegt waren, war das Krankenhaus an diesem Heiligabend des Jahres 1941 geheimnisvoll ruhig. Jan Szukalski wäre jetzt gerne mit Frau und Sohn zu Hause gewesen. Aber er konnte nicht einfach
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