Nachtzug
großen braunen Augen, die gezupften, bogenförmig verlaufenden Augenbrauen, die kleine, wohlgeformte Nase und ihren vollen Mund. Ja, er hatte sie schon vorher gesehen, bestimmt hundertmal. Sie war eine Polin bäuerlicher Abstammung, genauso wie die, die er von Oświęcim her kannte. Aber diese jungen Frauen da unten waren mit ihren leeren Blicken und ihren dünnen, leblosen Mündern nur gespenstische Abbilder der Person gewesen, die ihm hier gegenüberstand. So wie sie hatten sie wohl einst auch ausgesehen. Diese jungen Frauen da unten …
Plötzlich blickte er in eine andere Richtung.
Als sie murmelte: »Danke schön für Ihre Hilfe«, wandte er sich ihr wieder zu und zwang sich zu einem Lächeln.
»Wir wollen einen Sitzplatz suchen«, schlug er vor und löste sich von der Wand.
Er führte sie durch die zweite Klasse des Zuges, gegen dessen unruhige Bewegungen er anzukämpfen hatte. Die meisten Abteile waren von deutschen Soldaten besetzt, die sangen, Zeitschriften lasen und {28} ihren Zigarettenqualm in die Luft bliesen. Als er schließlich am Ende des Waggons ankam und keine Lust mehr hatte, sich mit seinem schweren Koffer und den Päckchen der jungen Frau durch die Gänge zu zwängen, blieb er am Eingang zum letzten Abteil stehen, in dem ein älteres polnisches Ehepaar saß. Es handelte sich um einen weißhaarigen Mann mit seiner rundlichen Frau. Beide reagierten mit einem nervösen Lächeln und nahmen hastig ihre Sachen von der Bank herunter, als sie den Soldaten sahen.
Keppler trat ein, ließ sich auf den Sitz am Fenster fallen und legte die Päckchen neben sich ab. Dann bat er die junge Frau, auch einzutreten. Sie setzte sich ihm gegenüber hin und preßte die Sachen, die sie bei sich trug, weiterhin krampfhaft gegen ihre Brust.
»Legen Sie doch alles da oben hin«, schlug Keppler ihr vor und zeigte auf das Gepäcknetz.
Doch die junge Frau schüttelte nur den Kopf.
Er zuckte mit den Schultern. Dann blieb er ruhig auf seinem harten Platz sitzen.
Die anderen Fahrgäste im Abteil beäugten ihn argwöhnisch.
»Was war denn in dem Päckchen, in dem etwas zerbrochen ist?« wandte er sich mit einemmal an die junge Frau. »Dieser Geruch war ganz neu für mich.«
Sie antwortete ihm mit unsicherer Stimme: »Es war Äther.«
»Äther!«
»Ja, für das Krankenhaus in Sofia.«
»Und die anderen Päckchen?«
»Alle fürs Krankenhaus, vor allem Sulfonamide, ein halber Liter Äther und Verbandsmaterial. Es ist heutzutage wirklich nicht leicht, solche Dinge zu besorgen.«
Er nickte und beobachtete ihr Gesicht, auf dem er Besorgnis, Angst, aber auch eine gewisse Neugierde ausmachte. Daneben haftete diesem anziehenden bäuerlichen Gesicht aber noch etwas anderes an, etwas, was unter der Oberfläche verblieb, so als wolle sie es verbergen. War es Widerstand? Oder Haß? »Sie sprechen sehr gut Polnisch«, wagte sie zu bemerken.
»Ich bin in Sofia geboren und aufgewachsen. Ich heiße Hans Keppler.«
»Sehr erfreut, Anna Krasinska. Fahren Sie nach Sofia?«
Er nickte.
{29} »Ich dachte, Sie sind auf dem Weg an die Front – wie die anderen hier im Zug.«
Keppler lächelte düster. »Die Waffen- SS hat noch anderes zu tun, als die Rote Armee zu bekämpfen. Ich habe zwei Wochen Urlaub. Wohnen Sie in Sofia?«
»Ja, bei meinen Eltern. Mein Vater ist Schulrektor, und ich arbeite als Schwester im Krankenhaus.«
Während er sich mit Anna Krasinska unterhielt, blickte Keppler kurz zu dem älteren Paar hinüber. Als das Gespräch einen normalen Verlauf nahm, hatten der Mann und die Frau sich entspannt. Sie hatten sich zurückgelehnt und hielten die Augen geschlossen.
Überall war es das gleiche. Unzählige Male hatte er sich schon diesem Blick gegenübergesehen, den er auch bei Anna Krasinska festgestellt hatte, als er ihr das tropfende Päckchen mit der Äther-Flasche gereicht und sie bemerkt hatte, wer, oder besser, was er war. Diese Angst, diese plötzliche Zurückhaltung, das Mißtrauen. Und am liebsten hätte er herausgeschrien: Diese Uniform ist doch nicht meine Haut! Seht doch, darunter bin ich, Hans Keppler!
Genau wie am Bahnhof konnte Anna Krasinska auch nun nicht umhin, ständig den Soldaten zu mustern, der inzwischen seine Blicke nach draußen über die winterliche Landschaft schweifen ließ. Er schien nicht alt genug für diese Uniform, und die jugendlich unschuldigen Züge auf seinem Gesicht paßten nicht zu dem TotenkopfEmblem auf seiner Mütze. Keppler hatte lockeres, blondes, zu einer knabenhaften
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