Nachtzug
Wurst in seinem Mund verschwinden. »Ich sagte Ihnen doch, ich habe genug. Und wenn ich in zwei Wochen auf meinen Posten zurückkehre, werde ich noch mehr bekommen.«
Während sie die Leckerei in der Tasche verstaute, fragte die junge Frau unbefangen: »Ist Ihr Posten hier in der Nähe, Herr Keppler?«
Ja, dachte er bitter, ich bin Aufseher in einem Konzentrationslager, doch der jungen Frau entgegnete er: »Dreißig Kilometer von Krakau. Ich sitze an einem Schreibtisch und bearbeite Akten.«
Sie lächelte erneut, die erste warme Geste, die Keppler in achtzehn Monaten erfahren hatte.
{32} Plötzlich blieb ihm die Wurst beinahe im Hals stecken, er mußte würgen, um sie herunterzubringen. Er dachte an den unermeßlichen Preis des Essens, das zu verschlingen er sich anschickte. Was er verteilte, war Teil der Ration der Insassen, genauso wie die goldene Uhr und die Seidenstrümpfe, die er seiner Großmutter brachte.
Er konnte nichts mehr essen und wandte sich zum Fenster. Ein paar flüchtige Blicke auf sein Spiegelbild reichten ihm, um die Schweißperlen auf seiner Stirn zu bemerken.
Zur Verwunderung seiner Mitreisenden schnellte er plötzlich hoch und warf die restliche Wurst in Annas Schoß. »Geben Sie dies Ihrem Vater, dem Rektor. Ich habe noch viel mehr davon und bin überhaupt nicht hungrig.« Er stieß diese Worte voller Anspannung aus, als müsse er sich zusammenreißen. Dann torkelte er über die Beine der Anwesenden hinweg, rannte den Gang hinunter und stürzte zur Toilette, die glücklicherweise nicht besetzt war.
Er hielt seinen Kopf über die Toilettenschüssel und wartete geduldig, bis die schwankende Bewegung des Zuges ihm half, die Wurst herauszuwürgen. Schließlich kam sie hoch und quoll aus seinem Mund und wurde sogleich durch die Toilette auf die Gleise gespült.
Hans Keppler richtete sich wieder auf und begab sich an das Ende des Waggons, wo eisige Windböen und ein paar Schneeflocken durch geöffnete Fenster in das Innere des Zuges hineinwehten. Dort geriet er erneut ins Grübeln: Warum soll es denn in Sofia anders sein? Dort geht es mir bestimmt genauso schlecht. Die Alpträume werden mir keine Ruhe lassen. Und nach zwei Wochen muß ich dann wieder zurück.
Im Abteil ließ er sich wieder in seinen Sitz fallen und wich den neugierigen Blicken seiner Begleiter aus. Er schaute nach draußen auf den Schnee und fühlte, wie Sofia näher und näher kam. Es ging kein Weg daran vorbei: Er würde irgend jemandem erzählen müssen, was er wußte. Es wurde ihm jetzt immer deutlicher, daß er sein Gewissen von der schrecklichen Last befreien mußte, wenn er nicht ganz dem Wahn verfallen wollte. Hans Keppler wußte in seinem Herzen, daß er ein Verräter war, und diese Einsicht zusammen mit dem Geheimnis, das er in sich barg, wurde eine Qual für ihn. »Eine Zigarette, Herr Keppler?« wandte sich Anna Krasinska an ihn.
Er schaute auf die Zigaretten. Es handelte sich um Damske, die jeweils {33} zur Hälfte aus Tabak und Baumwollfiltern bestanden und eigentlich nur von Frauen geraucht wurden, doch in dieser Zeit waren es die einzigen Zigaretten, die man sich überhaupt leisten konnte. Keppler dachte an die Zigaretten in seiner Tasche, die begehrten, veredelten Plaske mit ihrer runden Form, in Schachteln, die sich auf einen leichten Fingerdruck öffnen ließen und nur noch in privilegierten Kreisen zu finden waren. Doch er akzeptierte bereitwillig, tief bewegt, daß die junge Frau ihre letzten beiden Zigaretten mit ihm teilen wollte.
Die letzten Kilometer der Reise verbrachten sie rauchend und ohne ein Wort zu wechseln. Schließlich fuhr der Zug in den Bahnhof von Sofia ein.
Anna Krasinska sammelte alle ihre Päckchen zusammen, und diesmal gelang es ihr, sie auf den Armen zu verstauen. Sie bedankte sich noch einmal bei Hans Keppler für die Hilfe und den Proviant und stieg dann eilig aus. Während er langsam seinen Militärmantel zuknöpfte, blickte Keppler noch einmal aus dem Fenster und sah der hübschen jungen Frau nach, die sich stürmisch in die Arme eines Mannes warf, der auf dem schneebedeckten Bahnsteig auf sie wartete.
Als Keppler schließlich selbst den Zug verlassen hatte und die Bahnhofshalle betrat, war er froh, daß niemand ihn abgeholt hatte. Es war Heiligabend, und bevor er das Haus seiner Großmutter betrat, mußte er noch unbedingt eine Pflicht erfüllen. Der Gedanke daran war ihm gekommen, als er sich seiner Heimatstadt näherte.
Die Sankt-Ambroż-Kirche befand sich im Stadtzentrum
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