Nachtzug
schaufeln, eine Art Grube, an deren Rand sie sich anschließend aufstellen mußten. Dann habe man sie gezwungen, sich auszuziehen und die Kleider im Schnee sorgfältig zu Haufen zusammenzulegen. Dann hätten die Deutschen sie alle, Männer, Frauen und Kinder, einen nach dem anderen durch einen Schuß in den Hinterkopf getötet und sich dabei vergewissert, daß auch alle in die Grube fielen. Unser Zigeuner gehörte zu den letzten, die erschossen werden sollten. Wenn wir glauben können, was er sagt, dann lebte er noch, als die Deutschen anfingen, die Grube {38} mit Erde und Schnee aufzufüllen, um ein Massengrab daraus zu machen, und daß sie gegen Ende, als eigentlich unser Zigeuner dran gewesen wäre, nachlässig geworden seien und ihn nur halb bedeckt hätten. Er erzählte, daß er unter der Leiche einer Frau gelegen und sich nicht gerührt habe, um nicht zu zeigen, daß er noch lebte. Als die Deutschen fortgegangen seien, habe er noch lange gewartet, und dann sei er unter den Leichen hervorgekrochen und habe sich durch den Schnee fortgeschleppt. Schließlich ist er dann irgendwie beim Milewski-Hof gelandet. Haben Sie seine Geschichte so verstanden?«
Maria Duszynska flüsterte zuerst, dann bejahte sie mit kräftigerer Stimme und meinte: »Aber warum? Warum sollten die Deutschen so etwas tun? Soldaten kämpfen gegen Soldaten, so ist es eben im Krieg. Aber diese sinnlosen Greueltaten an Unschuldigen?«
Jan Szukalskis Gesicht verzog sich vor Zorn. »Ich habe es auch nicht geglaubt, meine werte Duszynska, aber es gibt keinen Grund, die Geschichte des Mannes anzuzweifeln.«
Sie schwiegen eine ganze Zeitlang, dann begann Szukalski als erster wieder zu sprechen: »Ich glaube, wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung, der wir nur ohnmächtig zusehen können.« Die Schatten in dem kargen Büro schienen sich zu verdüstern. »Ich möchte nach Hause«, äußerte schließlich der abgespannt wirkende Szukalski und starrte auf seine Hände.
Dr. Duszynska erhob sich und verließ wortlos den Raum.
Szukalski blieb noch ein paar Minuten sitzen und dachte über die Ironie des Lebens nach, wie er, durch die Umstände bedingt, seinen langjährigen Stellvertreter verloren hatte, wie ihn die Deutschen einfach entfernt und ihn vor knapp einem Jahr durch Dr. Duszynska ersetzt hatten, und darüber, wie schwer es ihm gefallen war, die Vorbehalte gegen seine neue Stellvertreterin aufzugeben. Es war eben nicht so einfach, sich von Vorurteilen zu lösen.
Szukalski ging noch einmal am Bett des Zigeuners vorbei und betrachtete ihn genau. Ein solches Gesicht hatte er schon viele Male zuvor auf Seziertischen gesehen. Eine eigenartige Mischung aus weißen, grauen und gelben Farbtönen lag vor ihm, und die purpurfarben angelaufenen Lippen und tief eingefallenen Wangen ließen eigentlich keinen anderen Schluß zu, als daß es sich um eine Leiche handeln mußte. Als er aber die schlaffe Hand ergriff und den Puls fühlte, dia {39} gnostizierte er einen Puls, der zwar nur schwach war, aber mit einer regelmäßigen Frequenz von achtzig pro Minute schlug. Der Zigeuner hatte den Kampf gegen den Tod noch lange nicht verloren. Jan Szukalski schaute den Bewußtlosen näher an und dachte wehmütig über die Grenzen der Heilkunst nach, die ihm, wie allen anderen Ärzten auch, gesetzt waren. Nachdem er die Hand des Zigeuners behutsam unter die Decke zurückgelegt hatte, verließ Szukalski den Krankensaal. Auf dem Gang stieß er auf Dr. Duszynska, die ihm entgegeneilte. Diesmal war seine Stellvertreterin nicht alleine. Ein Unbekannter begleitete sie.
Er versuchte sich ein Lächeln abzuringen, als sie ihn erreichten, aber da er eigentlich gerne alleine sein wollte, war ihm nicht daran gelegen, noch jemanden zu sehen. Doch Dr. Duszynska zuliebe wollte er sich bemühen, ein guter Schauspieler zu sein.
»Jan«, keuchte Maria Duszynska, »so eine Überraschung! Ich wußte ja gar nicht, daß Max nach Sofia kommen wollte, aber als ich das Krankenhaus verließ, da stand er plötzlich vor mir!« Szukalski wandte sich lächelnd an den Fremden. »Sehr erfreut«, begrüßte er ihn und reichte ihm die Hand.
»Maximilian Hartung«, stellte die aufgeregte Dr. Duszynska ihren Begleiter vor. »Wir haben zusammen studiert. Darf ich vorstellen: Jan Szukalski, der Leiter dieses Krankenhauses. O Jan, Max und ich haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Es ist bestimmt zwei Jahre her!«
Szukalski spürte, wie ihm das Lächeln zunehmend schwerfiel. Er bemerkte auch,
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