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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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heimgehen. Jetzt noch nicht und in den nächsten Stunden wahrscheinlich auch nicht. Der Zigeuner war noch nicht wieder zu Bewußtsein gekommen.
    Er schaute auf die Uhr, und lief dann weiter den Gang entlang, betrat sein Büro und drückte auf den Lichtschalter. Eine einzige Birne beleuchtete die wenigen Möbel, einen einfachen Schreibtisch, einen Drehstuhl mit einer hohen Rückenlehne, zwei weitere Stühle und einen Aktenschrank aus Holz. In eine Wand war ein Marmorkamin eingebaut, den man jedoch mit Brettern abgedeckt hatte. Statt dessen {36} hatte man eine moderne Heizung installiert, die für wohlige Wärme sorgte. Er saß müde hinter dem Schreibtisch und rieb sich die Augen. Seine Gedanken kreisten um den Zigeuner … Er starrte an die feuchte Decke. Nein, das alles ergab einfach keinen Sinn. Diese merkwürdige Geschichte, die der Bauer Milewski aus den bruchstückhaften Äußerungen des fabulierenden Verwundeten zusammengesponnen hatte, konnte einfach nicht stimmen. Aber wie waren der Zustand des Mannes zu erklären und die Umstände, unter denen Milewski ihn gefunden hatte? Und, noch verwunderlicher: Warum war der Mann alleine gewesen?
    Szukalski hatte noch nie einen Zigeuner gesehen, der alleine unterwegs war. Zigeuner pflegten ausnahmslos in Gruppen zu reisen, und wenn das nicht möglich war, dann wenigstens zu zweit. Aber alleine? Niemals! Und doch hatte dieser Zigeuner bei Milewskis Hof ganz alleine im Schnee gelegen, im Kopf eine Schußwunde von einer einzigen Kugel, und hatte Unglaubliches über seine fiebrigen Lippen gebracht.
    Irgendwo sollte ein Massaker stattgefunden haben …
    Szukalski bewegte den Kopf hin und her, als wolle er seine Gedanken abschütteln, und wandte sich dem Radio zu, das auf dem anderen Ende seines Schreibtisches stand. Er überlegte, ob er es einschalten sollte, um die bedrückende Stille zu vertreiben und etwas Freude in sein Büro zu bringen, aber dann erinnerte er sich, daß man ja seine Lieblingssendung abgeschafft hatte. Die polnischen Tangos, komponiert und dirigiert von den großen zeitgenössischen Musikern Gold und Petersburg, wurden nicht mehr gesendet. Wahrscheinlich waren Gold und Petersburg Juden. Als er seine Hand vom Radio zurückzog, hörte er, wie es klopfte. »Ja?« rief er.
    Die Tür ging langsam auf, und das vertraute Gesicht seiner Stellvertreterin, Dr. Duszynska, erschien im Türspalt. »Störe ich?«
    »Nein, überhaupt nicht. Treten Sie nur ein.«
    »Jan, ich komme gerade von oben. Der Zigeuner ist eben für einen Augenblick zu sich gekommen.«
    Szukalski schnellte sofort hoch. »Wie bitte? Und warum hat man mich nicht gerufen?«
    »Dazu reichte die Zeit nicht«, entgegnete Dr. Duszynska. »Ich war gerade dabei, nach einem Patienten im Bett nebenan zu sehen, als er {37} die Augen aufschlug und zu sprechen anfing. Nur ein paar Sekunden später fiel er wieder ins Koma zurück.«
    »Und?«
    Szukalskis Stellvertreterin starrte ihn durch das fahle Licht des Büros an und bemerkte, wie sich die Furche zwischen seinen Augenbrauen vertiefte. Dann sagte sie mit ernster Stimme: »Alles, was der Bauer erzählt hat, stimmt.«
    Szukalski ließ sich wieder zurückfallen und bat Dr. Duszynska, sich ebenfalls zu setzen. »Wie ist sein Zustand?«
    »Nicht besonders, leider. Es blutet zwar nicht mehr aus der Kopfwunde, aber ich bin sicher, daß er eine Pneumonie hat.«
    »Sie haben Ihr Bestes gegeben«, erklärte Jan. »Mehr war nicht möglich. Wie lange hat er denn eigentlich so im Schnee gelegen?«
    »Vom Augenblick des Massakers bis zu dem Zeitpunkt, als Milewski ihn fand, hatte der Zigeuner fast zwölf Stunden im Schnee gelegen. Jan, kann das alles wirklich wahr sein?«
    Dr. Duszynska, die auf ihre Frage keine Antwort erhielt, lehnte sich in einen Holzstuhl zurück und studierte einen Moment lang das Gesicht ihres Vorgesetzten.
    »Lassen Sie uns diese unglaubliche Angelegenheit, diese Geschichte des Zigeuners, noch einmal von Anfang an durchgehen«, schlug Szukalski plötzlich vor. »Er und seine Sippe, insgesamt ungefähr hundert Männer, Frauen und Kinder, hatten in dem Wald ihr Lager aufgeschlagen, als plötzlich ein Trupp deutscher Soldaten auftauchte. Vorher war nichts Besonderes vorgefallen, sagte er. Die deutschen Soldaten seien einfach aufgetaucht, hätten ihre Gewehre auf sie gerichtet und sie gezwungen, sich in Gruppen zusammenzufinden, und sie dann zum Waldrand getrieben. Dort habe man die Zigeuner gezwungen, im Schnee einen langen, tiefen Graben zu

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