Nachtzug
nicht in ihrem friedlichen Schlummer hatte stören wollen, herrschte nun im ganzen Haus Stille. Seine verwirrten Gedanken kreisten um die Frage, wie lange seine Familie wohl noch einen solchen Frieden und diese Ruhe genießen konnte.
Plötzlich knackte es im Feuer, Funken schossen sprühend in die Höhe und holten Jan Szukalski in die Gegenwart zurück. Er ließ sein Buch sinken und schüttelte den Kopf. Er wollte jetzt nicht an Frau und Kind denken, und auch nicht an seinen Bruder, diesen liebenswürdigen, sanften jungen Mann, der während der Invasion von 1939 in der polnischen Kavallerie gekämpft hatte.
Als Ryszards lächelndes Gesicht sich gar nicht mehr aus seiner Vorstellung vertreiben ließ, erhob sich Jan abrupt aus dem Sessel und begab sich zum Kamin: Dort blieb er vor den beiden Gemälden über dem Kaminsims stehen: Das eine stellte den knienden Jesus in Gethsemane dar, bei dem anderen handelte es sich um ein Porträt von Adam Mickiewicz, dem polnischen Nationaldichter. Beide genossen im Hause Szukalskis höchste Verehrung.
Ein leises Klopfen riß Szukalski aus seinen Betrachtungen, und er humpelte langsam zur Tür.
{67} Piotr Wajda stand schlotternd auf der Schwelle und blies sich in die Hände. Während er sich mit einem Lächeln für die späte Störung entschuldigte, schlüpfte er rasch in die Wärme des engen Korridors.
»Guten Abend, Jan«, murmelte er und schüttelte wie ein Hund die Schneeschicht ab, die ihn bedeckte. »Oder sollte ich besser sagen: ›Guten Morgen‹?«
»Nur zu, Herr Pfarrer, treten Sie ein. In meiner Eigenschaft als Arzt würde ich Ihnen erst einmal empfehlen, etwas zu trinken.«
Er führte den Priester in das behagliche Wohnzimmer. Auf dem Weg vom Krankenhaus war er von den Schergen Dieter Schmidts angehalten worden, verkniffen dreinblickenden Gestalten in schwarzen Ledermänteln, die ihn in der Kälte festgehalten und ihn mit ihren nicht enden wollenden Fragen traktiert hatten. Immer dieselben Fragen, immer dieselben Antworten. Als er schon glaubte, seine Füße würden festfrieren, hatte man ihn endlich gehen lassen.
Pfarrer Wajda legte seinen Priesterhut ab, schnippte den Schnee von der Quaste und nahm das Glas, das Szukalski ihm reichte. Es handelte sich um eine starke, mit Zimt und Gewürznelken angereicherte Honig-Wodka-Mischung, die er mit einem heißen Schürhaken aus dem Kamin erhitzt hatte. Sein Gastgeber goß sich ebenfalls ein und ließ sich dann in seinen Lehnstuhl fallen. Der Priester nahm gegenüber dem Arzt vor dem Kamin Platz und stürzte einen kräftigen Schluck hinunter. Eine Zeitlang schwiegen die beiden, blickten in den Kamin und ließen den Alkohol seine Wirkung entfalten. Schließlich eröffnete der Priester das Gespräch: »Jan … Heute nacht trage ich viele Sorgen mit mir.«
Szukalski musterte seinen Freund besorgt und bemerkte, wie belastet die kräftige Gestalt wirkte und wie sich sein breiter Rücken unter einer unsichtbaren Bürde zu beugen schien.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, erklärte er ruhig, »oder ob ich überhaupt anfangen sollte. In meinen zwanzig Jahren als Gemeindepriester habe ich noch nie das Beichtgeheimnis gebrochen, ja, ich habe eine solche Pflichtverletzung kein einziges Mal auch nur erwogen. Aber Jan, ich …« Piotr Wajda nahm einen weiteren kräftigen Schluck zu sich und starrte wieder ins Feuer. »Heute abend habe ich etwas erfahren, was …«
Szukalski griff nach der Karaffe, die das heiße Gebräu enthielt, und {68} schenkte seinem Freund nach. Dabei sagte er: »Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinaus wollen. Für uns Ärzte gelten dieselben Regeln bezüglich der Schweigepflicht. Ich bin moralisch und juristisch verpflichtet, Informationen, die die Patienten betreffen, für mich zu behalten, so wie Sie an das Beichtgeheimnis gebunden sind.«
»Stimmt!« pflichtete ihm der Priester mit einem gewissen Enthusiasmus in der Stimme bei. »Aber dennoch ist es nicht das Gleiche, Jan. Wenn ein Patient Ihnen anvertrauen würde, was ich heute abend gehört habe, dann würden Sie die Geschichte bereitwillig erzählen. Ich dagegen kann es nicht.«
Der Doktor gab einen Seufzer von sich und leerte sein Glas. »Trinken Sie nur, Pfarrer Wajda. Sie und ich tragen am meisten an dem Joch, das man dieser Stadt auferlegt hat.«
Der Priester lachte kurz und heiter auf. »Ja, ich weiß. In diesen Zeiten gibt es genug zerstörte Leiber und Seelen.« Piotr Wajda leerte nun ebenfalls sein Glas und lehnte sich im Sessel
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