Nachtzug
verkriechen, aber letztlich werden wir so sterben. Ist das nicht auch eine Art von Selbstmord?«
Er blickte in die schweigsamen Gesichter, die auf ihn gerichtet waren. »Alles, was wir unternehmen, um den Vormarsch der Deutschen zu verlangsamen, wird ihren Feinden nützlich sein. Und wir können uns selbst helfen. Mein Gott!« rief er aus und hob die geballte Faust, »ihr habt nicht gesehen, was ich in Oświęcim gesehen habe! Kleine Kinder, die man in Gaskammern zusammenpferchte! Selbst von da, wo ich stand, konnte man noch ihre flehenden Schreie hören, daß man sie freilassen möge …«
»David!«
Er blickte auf Moisze herab und fügte dann, etwas ruhiger, hinzu:
»Warum soll man den Deutschen ihre Eroberungen erleichtern? Warum sind wir denn hier, wenn nicht um zu kämpfen?«
»Ich stimme David zu«, sagte Brunek, »aber ich glaube trotzdem, daß es töricht wäre, wenn wir ohne ausreichende Waffen versuchten, das Depot der Deutschen in die Luft zu jagen. Wenn wir wirklich was erreichen wollen, dann müssen wir zuerst versuchen, an Waffen zu kommen. Was habt ihr denn zu bieten?«
»Ein paar Gewehre, nicht sehr viele, fünf Pistolen und weniger als zweihundert Schuß Munition, Ihre zwei Gewehre und Granaten nicht eingerechnet«, faßte Esther Bromberg zusammen, die gerade ans Feuer zurückkehrte, nachdem sie ein paar Schalen mit heißer Suppe verteilt hatte.
Brunek überlegte. »Nicht gerade viel, um damit was Vernünftiges anzufangen. Wir brauchen mehr Waffen, und, wichtiger noch, Sprengstoff. Moisze, gibt es hier in der Nähe nicht ein paar Minen, wo etwas Dynamit gelagert sein könnte?«
»Nein, leider nicht. Die meisten Minen befinden sich östlich von hier, in dieser Gegend gibt es nur Landwirtschaft und ein paar kleine Fabriken. Ja, und dann noch dieses Depot, von dem David gesprochen hat. Die Deutschen haben in dieser Einrichtung ihren ganzen Treib {63} stoff, ihre Munition, ihre Ersatzteile und Reparaturwerkstätten, die sie in diesem Teil Polens brauchen. Aber das ganze Areal ist riesig und, wie gesagt, schwer bewacht.«
»Dann werden wir uns die Waffen eben von den Deutschen selbst besorgen«, schlug Brunek vor.
»Und was soll das Ganze«, warf David voller Bitternis ein, »wenn wir nicht genug Leute haben, um sie zu benutzen? Wir brauchen Nachschub! Wir müssen eine ganze Armee aufstellen!«
Erneut meldete sich Abraham Vogel, der leise die Frage aufwarf:
»Und wo, bitte schön, sollen wir diese Armee hernehmen, David?«
»Aus den Nachtzügen.«
»Das kann unmöglich dein Ernst sein!« entfuhr es Moisze entsetzt.
»In diesen Zügen sind Hunderte von Menschen, Moisze! Wenn wir einen stoppen und alle befreien, dann haben wir unsere Armee.« Der Metzger blickte zu dem polnischen Hauptmann hinüber, dessen Skepsis unverkennbar war. »Das wäre nicht sehr klug«, bemerkte er, »denn das Risiko ist zu groß. Zuerst einmal müssen wir alles tun, um Waffen aufzutreiben, dann können wir uns um die Größe unserer Armee kümmern.«
David öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, besann sich dann aber eines besseren und schwieg. Trotz seiner Vorbehalte gegenüber dem Neuen mußte er einräumen, daß Brunek Matuszek ein Mann der Tat war. David war einstweilen bereit, sich zurückzuhalten.
Eine einzelne Windböe hatte den Weg durch die enge Höhlenöffnung gefunden und blies nun durch das weite Steingewölbe, so daß jeder erschauerte. Die Flammen des Lagerfeuers begannen zu tanzen, Schatten waberten unruhig an den felsigen Wänden. Moisze Bromberg brach als erster das Schweigen: »Was schlagen Sie denn vor, Brunek?«
»Ich denke, wir sollten abwarten, bis wir die Gelegenheit haben, eine Brücke hochzujagen, wenn ein Versorgungszug mit Waffen und Munition drüberfährt. Wir müssen nur die Züge beobachten, die im Depot von Sofia beladen werden, dann wissen wir, wann und gegen welchen Zug wir losschlagen müssen.«
»Und dann?«
»Dann haben wir erst einmal die Waffen, die wir benötigen. Später können wir uns dann Gedanken machen, wie wir noch mehr Kämpfer {64} rekrutieren können. Und erst danach ist es angebracht, zu überlegen, wie wir die Sache mit dem Depot angehen. Wenn es für die Deutschen so wichtig ist, wie du sagst, dann sollte es unser vorrangiges Ziel sein.«
Erneut hauchte ein eisiger Wind durch die Höhle und erinnerte einige der Partisanen daran, daß es draußen Winter und Heiligabend war. Aber was bedeutete für sie schon Heiligabend? Christbaum, Geschenke, Weihnachtsgans
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