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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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und einige von ihnen hielten krampfhaft ein Stück Seife umklammert.
    Keppler bohrte unruhig die Spitze seines Stiefels in den Boden. Nachdem er zweieinhalb Stunden vor dieser Tür gestanden und immer wieder versucht hatte, die dumpfen Schreie von drinnen zu überhören, vernahm er jetzt endlich, wie der Dieselmotor ansprang. Zuerst bemerkte Keppler lediglich die fernen, von Panik zeugenden Schreie, die ihm durch den kalten Wind von ganz weit her zugetragen wurden, aber er wußte, daß sie in Wirklichkeit von jenseits der Betonmauer stammten. Ein Wimmern und Stöhnen drang zu ihm herüber, eine seltsame Mischung von Zorn und Schock, Empörung und Angst, ein gespenstischer, von Menschen angestimmter Choral von Klageliedern. Und dann verstummte dieser eigenartige Choral langsam und löste sich, gleich einem unheilschwangeren Abgesang, auf.
    Insgesamt hatte alles zweiunddreißig Minuten gedauert. Und nun ging es für Keppler daran, eine Pflicht zu erfüllen, die er verabscheute.
    Während sich einige jüdische Lagerinsassen neben den Türen postierten, schlossen sich Keppler andere Soldaten an, das Gewehr im Anschlag. Als die Türen geöffnet wurden, strömte ihnen ein unerträg {73} licher Geruch entgegen, ein fauler Gestank, der in den Augen brannte und ihnen gleich so sehr die Tränen in die Augen trieb, daß sie kaum noch etwas sahen.
    Achthundert Menschen, Männer, Frauen und Kinder, standen, Marmorsäulen gleich, vor ihnen, erstarrt im Angesicht des Todes, kirschrot angelaufen infolge der Kohlenmonoxidvergiftung, schweißtriefende, gleichsam in Urin, Kot und Monatsblut schwimmende Leiber. Die jüdischen Sklaven, die bereitstanden, stürzten sich nun in dieses Inferno und warfen die Leichen nach draußen, wo andere Arbeiter schon warteten und ihnen mit Eisenhaken die Münder aufrissen, um darin nach Gold zu suchen. Andere wiederum inspizierten die Anal- und Genitalbereiche nach verstecktem Geld oder Diamanten. Die ganze Zeit stand Hans Keppler daneben, das Gewehr stets im Anschlag.
    Teilnahmslos, so als lenke er seine Gedanken in eine andere Richtung und sehe andere Szenen vor sich als die, die sich vor
     seinen Augen abspielten, verfolgte der junge SS -Rottenführer das finstere Geschehen. Einige der Leichen, die nacheinander an ihm vorbeigetragen wurden, wirkten im Tod auf fast traurige Weise glücklich, bei anderen wiederum waren die Mundpartien zu einer unheimlichen Grimasse verzerrt. Die anscheinend gleichgültige Haltung des SS -Mannes schien davon zu zeugen, daß er von den Vorgängen vollkommen unberührt war.
    Nach einigen Minuten hatte sich die Luft mit einem säuerlichen Gestank durchsetzt, der so unerträglich war, daß man sich daranmachte, die Leichen in die Verbrennungsöfen zu zerren. Da fiel Hans Kepplers Blick plötzlich auf das Gesicht einer alten Frau, die man ihm vor die Füße geschleudert hatte. Wie gebannt starrte er auf den leblosen Körper.
    Das Aussehen der alten Frau, ihre Pausbacken, die kurze Nase mit den weiten Öffnungen und ihre unterschiedlich tief hängenden Mundwinkel waren ihm auf seltsame Weise vertraut. Plötzlich zeigte sich bei der Frau ein Reflex, wie er kurz nach dem Eintritt des Todes manchmal auftritt, und sie schlug ihre tiefgrünen Augen auf, den Blick starr auf den jungen Mann gerichtet.
    Hans Keppler hörte, wie er aufschrie.
    Dann schrie er noch einmal.
    Wie von der Tarantel gestochen, am ganzen Leib zitternd und bebend, {74} fuhr der junge Soldat aus dem Schlaf auf und stellte mit klappernden Zähnen fest, daß er durch sein heftiges Schwitzen das Bettzeug völlig durchnäßt hatte.
    Während er sich selbst in seinen schweißnassen Armen wiegte und versuchte, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen, das das Bett erschütterte, hörte er Schritte auf dem Flur. Dann wurde das Licht eingeschaltet, und er nahm schemenhaft eine Gestalt wahr, die sich über ihn beugte.
    »Hansi!« flüsterte sie.
    Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber der einzige Laut, den er zustande brachte, war ein würgendes, heiseres Röcheln. Im nächsten Augenblick setzte sich die Großmutter zu ihrem Enkel aufs Bett und tastete nach seinen Händen. Aufmerksam studierte sie sein Gesicht. Dann tupfte sie ihm den Schweiß von der Stirn, während ihr Mund, dessen einer Winkel leicht herunterhing, beruhigende Worte murmelte.
    »Hansi«, säuselte sie und schaute ihn sanft aus ihren tiefgrünen Augen an, »hast du schlecht geträumt?«
    Nun konnte er nicht mehr an sich halten.
»Babka!«
brach

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