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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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zurück. »Ich weiß, daß ich mit Ihnen sprechen kann, Jan; ja, Sie sind sogar der einzige, mit dem es mir möglich ist. Aber Sie müssen verstehen, wie schwierig dies alles für mich ist, denn es bedeutet, daß ich mein heiliges Gelübde breche, und dafür kann man mich exkommunizieren. Aber es geht kein Weg daran vorbei, ich muß Ihnen anvertrauen, was ich heute abend erfahren habe, und ich tue es nur, weil davon das Überleben vieler anderer Menschen abhängt. Ja, es geht um Leben und Tod.« Szukalski nickte, sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. Beunruhigt stellte er fest, daß Pfarrer Wajda trotz seines pechschwarzen Haars und seines jugendlichen, kräftigen Körpers an diesem Abend wie um Jahre gealtert wirkte.
    »Aber irgendwie kommt es mir vor«, fuhr der Priester etwas ruhiger fort, »daß ich das, wovon ich im Beichtstuhl Kenntnis erlangt habe, weitererzählen kann, ohne eine Sünde zu begehen.« Dann setzte er sich auf, und Szukalski sah zu seinem Entsetzen, wie bleich er im Gesicht war. »Das Konzentrationslager in Oświęcim«, erklärte der Priester, »ist ein Todeslager.«
    Jan Szukalski saß in seinem Sessel, ohne sich zu rühren. Das einzige, was er wahrnahm, waren das Knacken des Feuers und die intensiven, grauen Augen des Mannes ihm gegenüber. Langsam und bedächtig versetzte er: »Ich verstehe Sie so, daß die Menschen wegen der {69} furchtbaren Umstände sterben, die dort herrschen. Wollen Sie das sagen, Herr Pfarrer?«
    »Was ich meine«, entgegnete der Priester, »ist, daß die Menschen dort systematisch vernichtet werden. Zugladung um Zugladung, Jan. Sechstausend jeden Tag.«
    »Heilige Maria«, entfuhr es Szukalski leise, »das kann unmöglich Ihr Ernst sein!«
    Die beiden Männer starrten einander an. Um sie herum schienen die Wände einzustürzen, die Luft wurde ihnen zum Ersticken heiß. Schließlich fuhr Szukalski fort: »Das ist unmöglich, Herr Pfarrer, allein schon aus organisatorischen Gründen. Es ist unmöglich, so viele Menschen pro Tag umzubringen und es zu verbergen. Und warum denn?« Er hob die Stimme: »Warum denn, Pfarrer Wajda? Und wen töten sie?«
    »Was die Organisation betrifft, mein lieber Herr Idealist, kann ich Ihnen sagen, daß die Deutschen in Oświęcim riesige Gaskammern errichtet haben, die Duschräumen gleichen, in denen man die Gefangenen unter dem Vorwand zusammentreibt, sie reinigen und entlausen zu müssen. Aber statt Wasser strömt aus den Hähnen Gas. Die Menschen werden vergast. Später werden sie in gewaltigen Öfen verbrannt, nachdem man ihnen das Gold aus den Zähnen gebrochen hat …«
    »Nein, das glaube ich nicht!«
    »Und was die Frage angeht, welche armen Geschöpfe es dabei trifft, so handelt es sich meistens um Juden, Zigeuner, Tschechen und Polen, Kinder, Krüppel oder alte Menschen, eben jeden, der nicht Hitlers wirren Vorstellungen von rassischer oder physischer Reinheit entspricht. Diejenigen, die arbeiten müssen, kommen nur in den Genuß eines Aufschubs, denn sobald sie ausgehungert und vor Schwäche nicht mehr brauchbar sind, steckt man auch sie in die Gaskammern.«
    »O mein Gott …«
    »Ganz zu schweigen von den medizinischen Versuchen, die man dort …«
    »Herr Pfarrer!« Szukalski sprang, sichtbar erschüttert, aus dem Sessel. »Das ist nicht wahr, es darf einfach nicht stimmen! Sie sagen, das hat man Ihnen gebeichtet?«
    {70} »Ja, heute abend.« Piotr Wajda schaute zu seinem Freund auf, nacktes Entsetzen im Blick. »Ein junger Mann aus Sofia, der in dem Lager Aufseher ist, hat beobachtet, wie einige Einwohner aus seiner Heimatstadt dort auf diese Weise umgebracht wurden.«
    Als wolle er verhindern, daß die Knie unter ihm nachgeben, verschränkte Jan Szukalski seine Arme auf dem Kaminsims und legte seinen Kopf darauf, um sein Gesicht zu verbergen. »Oświęcim ist nur ein Konzentrationslager für politische Gegner und eine Umsiedlungsstätte für Kriegsflüchtlinge«, murmelte er in die Beuge seines Ellenbogens.
    »Es ist mehr als das, Jan. Es ist ein Todeslager.« Piotr Wajda hatte gedacht, daß sein Schmerz irgendwie gelindert würde, wenn er ihn mit seinem engsten Freund teilte. Aber dies war nicht der Fall.
    Bedrückt fuhr der Priester fort: »Hitler hat letztlich vor, Polen in ein Sklavenreservoir für sein Reich umzuwandeln; die Intelligenz, den Klerus und jeden, der irgendwie Einfluß hat, wird er deshalb beseitigen. Und ich glaube«, erklärte er mit angespannter Stimme, »daß sie uns schon alle aus dem Weg

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