Nachtzug
gleichmäßigen Holpern des Zuges folgend, sanft hin und her schaukelte, starrte er unbewegt auf den Schnee, der sich wie ein Vorhang am Abteilfenster niedergeschlagen hatte. Hans spürte, wie sein Herz von Traurigkeit und Reuegefühlen erfaßt wurde.
Er schloß die Augen. Nein … Kein Eisernes Kreuz … Seine »Belohnung« aus Oświęcim war lediglich eine goldene Uhr, die er einem toten Juden abgenommen hatte.
»O mein Gott!« flüsterte er und entfernte sich vom Fenster. Er fuhr sich über die Stirn und stellte fest, daß er stark schwitzte. Die Erinnerungen stiegen wieder in ihm auf, sie waren zu bewegend für ihn. Wenn er doch nur mit jemandem sprechen könnte! Aber mit wem denn? Wer im Reich hätte ihm denn geglaubt, hätte ihn verstanden, wenn er ihm das furchtbare Geheimnis anvertraut hätte, das er kannte? Und selbst wenn es jemanden gäbe, wie sollte er, der SS-Rottenführer Hans Keppler, sich denn offenbaren, ohne damit zum Verräter an seinem Vaterland zu werden?
»O mein Gott! …« seufzte er erneut.
Der Zug stampfte weiter durch den schneeverhangenen Morgen, und Keppler, immer noch alleine in seinem Abteil, schwitzte und fröstelte {24} zugleich in seiner Uniform. Zwei Wochen, dachte er bedrückt. Zwei Wochen nicht mehr an diesem Ort. Zwei Wochen, um über alles nachzudenken und wieder zu mir zu finden.
Die Bremsen des Zuges kreischten entsetzlich, und der junge Rottenführer erinnerte sich an ein anderes, ebenso entsetzliches Kreischen, da unten. Da unten in Oświęcim, in Auschwitz …
Auch in Sofia rieselte der Schnee in dichten Flocken, so daß die menschenleeren Straßen in ein besänftigendes Weiß gehüllt wurden, was diesem Vorweihnachtstag eine eigenartige Stille verlieh. Aber die Stille war trügerisch, denn an diesem Morgen war nicht jeder damit beschäftigt, Christbaumkerzen aufzustecken oder eine Weihnachtsgans zu braten. Ein Getreidebauer namens Milewski trieb hastig sein Pferd über das glatte Kopfsteinpflaster, und die Eile, die er dabei an den Tag legte, schien nicht zu dieser friedlichen Morgenstunde zu passen. Offensichtlich war die Eile aber angebracht, denn auf seinem Karren transportierte er einen Mann mit fürchterlichen Wunden.
Als er am Nebeneingang des Krankenhauses von Sofia, einem imposanten grauen Gebäude, ankam, sprang er von seinem Karren herunter in den Schnee und versuchte, sein Pferd zu besänftigen. Das Tier, das den Blutgeruch witterte, der von seiner Fracht ausströmte, gebärdete sich aufgeregt in seinem Geschirr. Gleich darauf tauchten auch schon zwei ältere Männer in weißen Sanitäteruniformen aus dem Gebäudeinnern auf und legten den Verletzten sofort auf eine Trage, ohne ein Wort dabei zu verlieren. Milewski, dem der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand, tastete unruhig nach einer Zigarette und beobachtete schweigend, wie der in ein blutbeflecktes Leinentuch eingehüllte Mann hinten von seinem Wagen heruntergeholt und auf die Trage gelegt wurde. Er sah den beiden Sanitätern nach, wie sie, Spuren im Schnee hinterlassend, mit ihrer Last zum Eingang zurückeilten und schließlich im Gebäude verschwanden. Während er mit einer gewissen Gleichgültigkeit die Stelle betrachtete, an der der Verletzte gelegen hatte, zog er an seiner Zigarette und dachte, daß er einige der Blutflecken wohl niemals mehr würde entfernen können.
Als er aufblickte, bemerkte er plötzlich einen anderen Mann neben sich, der einen weißen Arztkittel trug und sich unvermittelt an ihn wandte.
{25} »Der Junge, den Sie da für uns gebracht haben«, fragte er mit distanzierter, von beruflichem Interesse zeugender Stimme, »ist das Ihr Sohn?«
»Ja, Herr Doktor.«
»Es war gut, daß Sie ihn gebracht haben. Der Operationssaal ist vorbereitet. Sie haben richtig gehandelt.«
»Ja, Herr Doktor.«
Beide Männer starrten auf den Wagen, auf dessen Ladefläche sich die Blutlache immer noch ausbreitete. Nach einem weiteren kurzen Schweigen meinte der Arzt: »Ihr Sohn hat uns etwas Interessantes berichtet. Eine ziemlich ungewöhnliche Geschichte. Über diesen Mann.«
Der Bauer blickte das erste Mal richtig zu dem großen Arzt auf, der so vieldeutig mit ihm sprach. Dann schüttelte er seinen kantigen Kopf und entgegnete: »Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, Doktor, aber sie stimmt. Und das ist noch nicht alles.«
In dem reglosen Gesicht des Arztes zuckte es kurz. »Erzählen Sie mir, was geschehen ist.«
Als er zwei Stunden später in Krakau ankam, erfuhr Hans
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